Dr. med. vet. Corina Gericke

«Um aus der Sackgasse herauszukommen, muss die Medizin neue Wege beschreiten»

AG STG: Wie sieht Ihr persönliches Verhältnis zu Tieren aus? Welche Rechte fordern Sie für Tiere?

Dr. Gericke:
Ich respektiere jedes Tier als Individuum mit eigenen Bedürfnissen. Tieren muss das Recht auf Unversehrtheit und ein Leben, ihren arteigenen Bedürfnissen entsprechend, zugestanden werden. Ich lehne es ab, dass Tiere in irgendeiner Form von Menschen instrumentalisiert werden.

AG STG: Würden Sie bitte kurz Ihren persönlichen Weg zum Tierschutz beschreiben? Welche Beweggründe waren für Sie massgeblich?

Dr. Gericke: Ausschlaggebend waren für mich Fernsehberichte Ende der 70er-Jahre über Tierhaltung in der Landwirtschaft und über Tierversuche. Mir wurde bewusst, dass es nicht richtig ist, wie wir mit Tieren umgehen, und ich wollte dagegen etwas tun. Aber ich fühlte mich allein und wusste nicht, wie ich vorgehen sollte. Gleichgesinnte konnte ich zunächst nicht finden. 1984 lernte ich eine lokale Tierversuchsgegnergruppe kennen und seither trete ich aktiv gegen Tierversuche und für Tierrechte ein. Etwa zur gleichen Zeit wurde ich Vegetarierin und kurze Zeit später Veganerin.

AG STG: Woher nehmen Sie die Kraft, sich seit fast 25 Jahren für Tiere und gegen Tierversuche einzusetzen?
Im vergangenen Vierteljahrhundert konnte einiges für die Tiere erreicht werden, wenn auch wesentlich weniger als erhofft und oftmals gar durch Rückschritte gekennzeichnet. Ein gewisser Bewusstseinswandel in Öffentlichkeit und Politik ist aber unverkennbar. Die Kraft, für die Rechte der Tiere einzutreten und mein Scherflein dazu beizutragen, kommt dabei aus den Tiefen meines Herzens.

AG STG:
In Deutschland ist der Tierschutz seit 2002 im Grundgesetz verankert. Was hat sich dadurch in der Praxis für die Versuchstiere verbessert?

Dr. med. vet. Corina Gericke informiert über die Gefahren von Tierversuchen
Dr. med. vet. Corina Gericke informiert
über die Gefahren von Tierversuchen
Dr. Gericke: Die Aufnahme des Tierschutzes ins Grundgesetz mag für manche Tierrechtler reine Theorie sein, da bislang kaum Tiere konkret gerettet werden konnten. Tatsächlich ist es aber ein ungemein wichtiger Schritt für die Tierrechte, denn die Verfassungsänderung ist ein Spiegel unserer Gesellschaft, der zeigt, dass dem Tier durchaus ein Stellenwert zugemessen wird und es nicht blosses Nutzobjekt ist. Im Bereich der Tierversuche müssen die Genehmigungsbehörden nun auch verstärkt die ethische Vertretbarkeit eines Versuchsantrages hinterfragen. Um die Grundgesetzerweiterung wirklich mit Leben zu füllen, bedarf es der Einführung des Verbandsklagerechtes. Anerkannte Tierschutz-/Tierrechtsorganisationen müssen die Möglichkeit bekommen, im Namen der Tiere vor Gericht gehen zu können. So könnte in Einzelfällen die bislang grenzenlose Forschungsfreiheit gerichtlich überprüft werden.

AG STG: Die Vorregistrierung für REACH wurde am 1. Dezember 2008 abgeschlossen. Dank jahrelangem Kampf von Tierversuchsgegnern müssen die Firmen Tierversuchsdaten austauschen, um so Mehrfachversuche zu verhindern. Wie wird sichergestellt, dass dies auch gemacht wird?

Dr. Gericke: Für jede Substanz soll nur ein Dossier bei der Europäischen Chemikalienbehörde ECHA in Helsinki eingereicht werden. Mehrere Firmen, die die gleichen Chemikalien herstellen, müssen sich zusammenschliessen, um ihre Tierversuchsdaten gemeinsam einzureichen. Allerdings betrachten die Firmen ihre Daten als Betriebsgeheimnis und es ist fraglich, ob sie die Informationen wirklich herausrücken werden.

AG STG:
Können Tierversuchsgegnergruppen nun bei REACH überhaupt noch eingreifen?

Dr. Gericke: Anträge auf Tierversuche müssen bei der ECHA eingereicht und dann 45 Tage lang den Interessensgruppen zugänglich gemacht werden, um nach schon vorhandenen Daten oder tierversuchsfreien Methoden zu suchen. Diese 45-Tage-Überprüfungsfrist wurde auf Druck der Tierversuchsgegnerverbände in REACH aufgenommen und wird uns (hoffentlich) die Möglichkeit geben, konkret Tierleben zu retten. Die ECHA entscheidet anschliessend, ob die beantragten Tierversuche durchgeführt werden dürfen oder nicht. Die Europäische Koalition zur Beendigung von Tierversuchen (ECEAE), mit der wir eng zusammenarbeiten, hat einen Sitz bei den monatlich stattfindenden zweitägigen Treffen der Mitgliederkommission der ECHA. Darüber werden wir erfahren, wann die ersten Anträge auf Tierversuche eingehen.

AG STG: Woran scheitert es, dass die Entwicklung und Einführung von tierversuchsfreien Testmethoden vom Staat endlich massiv gefördert wird?

Dr. med. vet. Corina Gericke informiert über die Gefahren von Tierversuchen
Dr. med. vet. Corina Gericke informiert
über die Gefahren von Tierversuchen
Dr. Gericke: Ein grosses Problem ist das mangelnde Renommee der tierversuchsfreien Forschung. So werden die von der Bundesregierung bereitgestellten Fördergelder oftmals nicht einmal abgerufen. Geld allein reicht nicht. Karriere kann man immer noch weitaus besser mit Tierversuchen machen. Die Regierung ist gefordert, hier Weichen zu stellen. Angehende, karriereorientierte Wissenschaftler müssen frühzeitig an die In-vitro-Methoden herangeführt werden, z.B. durch die Einrichtung von Lehrstühlen an den Universitäten, damit sie nicht automatisch den tierexperimentellen Weg einschlagen.

AG STG: Viele tierversuchsfreie Testmethoden sind schneller, sicherer und auch günstiger. Ganz im Sinne der Industrie, die ja hauptsächlich daran interessiert ist, möglichst kostengünstig zu produzieren. Weshalb fördert die Industrie diese Methoden selbst nicht mehr?

Dr. Gericke: Tatsächlich kommen viele Neuentwicklungen von tierversuchsfreien Methoden aus der Industrie. Allerdings haben die Unternehmen auch ein Interesse daran, den Tierversuch beizubehalten. So sichern sie sich ab, falls mit ihren Produkten etwas schiefgeht.

AG STG: Wie gross ist generell das Interesse der Universitäten, sich mit fortschrittlichen und innovativen Forschungsmethoden zu befassen?

Dr. Gericke: Tierexperimentell gewonnene Ergebnisse lassen sich wunderbar in Publikationen umsetzen. Diese sind das Mass für die Qualität eines Forschers. Je länger seine Liste der Veröffentlichungen in wissenschaftlichen Fachjournalen ist, desto eher kommt er an Forschungsgelder. Alle, die von diesem System profitieren, haben kein Interesse daran, dies zu ändern.

AG STG: Im Rahmen des Ukraine-Projektes von Ärzte gegen Tierversuche haben Sie bereits mehrere Universitäten mit technischen Geräten für eine tierversuchsfreie Ausbildung ausgestattet. Wie sieht der aktuelle Stand dieses Projektes aus?

Dr. Gericke: Bislang haben wir drei Institute an drei Universitäten in der Ukraine ausgestattet. Das grosse Problem an den osteuropäischen Hochschulen ist der Informationsmangel. Sie wissen gar nicht, welche Möglichkeiten moderne Lehrmethoden bieten. Wir finanzieren zurzeit ein Projekt, bei dem mindestens 100 Hochschulen in Russland, Weissrussland und der Ukraine durch einen Videofilm informiert und überzeugt werden sollen.

Dr. Gericke: Was Sie schon immer über Tierversuche wissen wollten
Gericke et al.:
Was Sie schon immer über Tierversuche wissen wollten

Ebenfalls sehr lesenswert ist das Buch von Gericke et al., das in kurzen und gut verständlichen Antworten ein sehr gutes Argumentarium gegen Tierversuche darstellt.





AG STG:
Wie beurteilen Sie die Arbeit der Tierversuchsgegner-Bewegung? Welche Erfolge konnten verbucht werden?

Dr. Gericke: Die Erfolge sind eher schleichend und auf längere Zeiträume bezogen. So haben sich das Bewusstsein und die Sensibilität der Bevölkerung bezüglich Tierversuchen in den letzten 20 bis 30 Jahren stark entwickelt. Was den Tieren in den Labors angetan wird, war vor 30 Jahren praktisch unbekannt. In weiten Teilen der Bevölkerung ist der Tierversuch zumindest aus ethischer Sicht negativ besetzt. Die Tierversuche durchführenden Firmen weisen gern darauf hin, dass sie schon viele In-vitro-Verfahren einsetzen, weil sie um ihr Image fürchten. In Zürich, Berlin, München und Bremen wurde unlängst die Durchführung von qualvollen Hirnexperimenten an Affen von den Genehmigungsbehörden untersagt. Eine gewisse Sensibilität ist selbst bei einigen Behörden angekommen.
Ein weiterer Erfolg ist die Entwicklung von In-vitro-Methoden, etwas, was es vor 30 Jahren fast noch nicht gab. Heute ist dies ein eigener Forschungszweig mit unglaublichem Potenzial. Ohne die jahrzehntelange, unermüdliche Arbeit der Tierversuchsgegner gäbe es ZEBET (Zentralstelle zur Bewertung und Erfassung von Alternativmethoden zum Tierversuch) nicht und gäbe es die EU-Kosmetikrichtlinie nicht, die in absehbarer Zeit zumindest in einem kleinen Bereich der Tierversuche einen kleinen Fortschritt erzielen wird.

AG STG: Wie beurteilen Sie die Erfolge des 3R-Konzepts?

Dr. Gericke: Das 1959 ins Leben gerufene 3R-Konzept, also das Reduzieren, Verfeinern und Ersetzen von Tierversuchen, ist inzwischen weltweit anerkannt und hat auch in Gesetze Eingang gefunden. Unbestritten hat das Konzept auch in einigen Teilbereichen zu einer Verringerung von Tierleid geführt, z.B. wenn tierversuchsfreie Methoden in die OECD-Richtlinien aufgenommen werden. Allerdings stellt das 3R-Prinzip den Tierversuch als Methode nicht in Frage. Doch Tierversuche müssen komplett abgeschafft werden, weil sie ethisch nicht zu rechtfertigen und wissenschaftlich unsinnig und unnötig sind. Um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es einer grundlegenden Änderung in Forschung und Medizin und nicht nur einer kosmetischen 3R-Korrektur.

AG STG: Wo sehen Sie die medizinische Forschung in 10 Jahren?

Dr. Gericke: Die medizinische Forschung wird irgendwann merken, dass sie sich in einer Sackgasse befindet. Trotz ungeheurer Ausgaben und Anstrengungen sind immer noch zwei Drittel aller Krankheiten unheilbar, wird man der rasant zunehmenden Zivilisationskrankheiten nicht Herr. Um aus der Sackgasse herauszukommen, muss die Medizin neue Wege beschreiten. Wege einer ethisch vertretbaren Medizin, bei der Prävention und klinische Forschung im Mittelpunkt stehen. Ob dies in 10, 20 oder 50 Jahren der Fall sein wird, ist schwer zu sagen. Wir werden jedenfalls weiter dafür kämpfen, dass dieser Wandel möglichst bald eintritt.

AG STG: Ein abschliessender Satz:

Dr. Gericke: Medizinischer Fortschritt ist wichtig, Tierversuche sind der falsche Weg.

Herzlichen Dank, dass Sie sich Zeit für dieses Interview genommen haben und viel Erfolg für Ihre weitere Arbeit.


Ärzte gegen Tierversuche e.V.
Ärzte gegen Tierversuche ist eine Vereinigung von mehreren Hundert Ärzten, Tierärzten, Naturwissenschaftlern und Psychologen aus dem deutschsprachigen Raum. Seit 1979 setzt sich der Verein für die Abschaffung der Tierversuche aus ethischen und wissenschaftlichen Gründen ein. Ein Schwerpunkt der Aktivitäten liegt auf der Information der Öffentlichkeit über die Grausamkeit und Unsinnigkeit tierexperimenteller Forschung sowie den Möglichkeiten tierversuchsfreier Methoden. Die Internet-Datenbank des Vereins dokumentiert Details zu Tausenden von in Deutschland durchgeführten Tierversuchen. Kampagnen üben öffentlichen Druck auf die Industrie und andere tierexperimentelle Einrichtungen aus. Der Verband fördert ausserdem tierversuchsfreie Forschung durch Preisgelder, betreibt ein Schulprojekt und engagiert sich auch politisch auf Bundes- und EU-Ebene.


www.aerzte-gegen-tierversuche.de