Offener Brief britischer Wissenschaftler an Grossbritanniens Premierminister David Cameron und Gesundheitsminister Andrew Lansley zur Arzneimittelsicherheit

an Grossbritanniens Premierminister David Cameron und Gesundheitsminister Andrew Lansley

Kathy Archibald (Safer Medicines Trust), Robert Coleman, Christopher Foster (Universität von Liverpool) und 19 weitere Autoren*
Veröffentlicht im renommierten medizinischen Wissenschaftsmagazin «Lancet» vom 4. 6. 2011 [8]
Übersetzt und kommentiert von Oberarzt Dr. med. Alexander Walz

Wir schreiben Ihnen als Gruppe von Ärzten und Wissenschaftlern, um unsere Sorgen über das Versagen von Medikamenten sowie unerwünschte Medikamentennebenwirkungen auszudrücken. Die Pharmaindustrie Grossbritanniens steckt seit dem Weggang von Pfizer aus Sandwich in einer Krise. Auch das Gesundheitswesen ist in einem Netz von Problemen gefangen. Viele davon sind eng verbunden mit den Hauptproblemen der Pharmaindustrie.
Unerwünschte Arzneimittelnebenwirkungen haben die Ausmasse einer Epidemie angenommen und nehmen doppelt so schnell zu wie die Verschreibungen von Arzneimitteln. [1]
Die Europäische Union schätzte 2008, dass unerwünschte Nebenwirkungen von Medikamenten jährlich für den Tod von 197 000 EU-Bürgern verantwortlich sind und Kosten in der Höhe von 79 Milliarden Euro verursachen. [2]
Zudem steigen die Kosten neuer Medikamente unaufhaltsam, was zu einer ständig zunehmenden Belastung des NHS (britisches Gesundheitssystem) führt. Gleichzeitig nehmen viele Krankheiten wie z.B. Alzheimer-Demenz, Diabetes mellitus, Krebskrankheiten und Schlaganfälle immer weiter zu und bleiben ohne adäquate Therapien.

Innovative und moderne Wissenschaftler setzen auf tierversuchsfreie ForschungsmethodenDer Hauptgrund für die steigenden Kosten neuer Medikamente ist die Tatsache, dass mehr als 90% von ihnen in klinischen Untersuchungen, d.h.  Untersuchungen am Menschen, versagen. [3] Die Firmen müssen somit nicht nur die Entwicklungskosten des einen anwendbaren Medikamentes wieder einbringen, sondern auch die Entwicklungskosten der anderen 9 Medikamente, die auf der Strecke blieben.
Zunehmend wird klar, dass ein wichtiger Faktor, der zu diesen Problemen führt, das übermässige Vertrauen der Pharmaindustrie in Tierversuche ist. Dies indem angenommen wird, man könne mit Tierversuchen das Verhalten und die Wirkung von Medikamenten beim Menschen vorhersagen. Gut bekannt sind die grossen Unterschiede, die es nicht nur bei Krankheiten unter den verschiedenen Tierspezies gibt, sondern auch in ihrer Reaktion auf Medikamente. Viele Studien haben gezeigt, dass Tierversuche regelmässig nicht auf Menschen übertragen werden können. Eine wissenschaftliche Untersuchung schätzte die Zuverlässigkeit für eine Vorhersage beim Menschen nur auf 37–50%, d.h. nicht besser als das Werfen einer Münze. [4] (Anm.: Die Übersicht analysierte nur 6 Krankheitsbilder und berücksichtigte ausschliesslich publizierte Tierversuche. Der Grossteil der Tierversuchsstudien wird jedoch infolge Misserfolgs nie veröffentlicht. Werden die nicht publizierten Tierversuche mitberücksichtigt, liegt die Zuverlässigkeit für die Vorhersage unter 10% [gemäss Angaben der amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA]).

Unser Vertrauen in Tierversuche zum Erhalt einer Sicherheitseinschätzung für die klinischen Studien an Probanden und Patienten ist im besten Fall nutzlos, im schlimmsten Fall gefährlich. Das berüchtigte Northwick-Park- Studienmedikament, TGN1412, ist ein Beispiel, bei dem sechs junge Männer einer intensivmedizinischen Behandlung bedurften. Das Medikament war zuvor bei Affen problemlos in der 500fachen Dosierung getestet worden. Jedoch die fünfhundert Mal kleinere Dosis führte bei den Männern fast zum Tod. [5] Kurz nach der katastrophalen Studie wurde ein In-vitro-Test (Versuch im Reagenzglas) mit menschlichen Zellkulturen entwickelt, um solche Überreaktionen des Immunsystems vorherzusagen. [5]  Wäre dieser Test angewandt worden, bevor Menschen dem Medikament ausgesetzt wurden, hätte die Studie niemals stattgefunden.
Wäre es nicht an der Zeit, die Leistungsfähigkeit von solchen humanbiologischen Tests (innovative, tierversuchsfreie Forschungsmethoden) rigoros zu überprüfen, um in der Medizin eine Verbesserung gegenüber den heute angewandten, schwer mangelhaften tierbasierten Tests zu erreichen?

Zahlreiche neue Technologien versprechen grösseren klinischen Vorhersagewert und erhebliche Verbesserungen der Effizienz und der KostenWir fordern die Regierung Grossbritanniens auf, einen Vergleich zwischen den humanbiologischen Tests und den gegenwärtig angewandten Tierversuchen zu veranlassen. Dies um zu sehen, welche Methoden besser geeignet sind, die Sicherheit von Medikamenten für Patienten vorherzusagen (wie dies im Gesetzentwurf zur Sicherheit von Medikamenten 2010/11 vorgeschlagen ist). [6] Zahlreiche neue Technologien versprechen grösseren klinischen Vorhersagewert und erhebliche Verbesserungen der Effizienz und der Kosten. Der Gesetzentwurf schlägt nicht den Ersatz von Tierversuchen vor, sondern deren Überprüfung hinsichtlich ihrer Tauglichkeit als Vorhersageinstrument. 148 Parlamentsmitglieder haben bereits eine Motion, die diesen Entwurf unterstützt, unterzeichnet. [7]

Einige von uns haben kürzlich die Anregungen dem Gesundheitsministerium Grossbritanniens vorgetragen. Sie bekamen als Antwort, dass die Regierung glaubt, dass es nicht bewiesen ist, dass humanbiologische Tests zuverlässiger als Tierversuche im Vorhersagewert bei der Entwicklung sicherer Medikamente sind. Dem stimmen wir zu. Aber der Grund, weshalb dies nicht bewiesen ist, liegt darin, dass keine konsequenten Untersuchungen solcher humanbiologischer Systeme unternommen wurden. Die eigentliche Absicht des vorgeschlagenen Vergleichs ist, solch eine Untersuchung zu initiieren. Diese Untersuchung ist zum Wohl des NHS, der Pharmaindustrie und – am wichtigsten – der Patienten dringend notwendig.
Wir bitten Sie eindringlich, jetzt zu handeln, um damit sicherzustellen, dass um die Medikamentensicherheit für Patienten zu erforschen, die gegenwärtig besten verfügbaren Technologien genutzt werden.


Anmerkung AG STG:
Unsere Medienmitteilung vom 4. Juli 2011 zu diesem Brief finden Sie unter:
http://www.agstg.ch/medien/medienstelle-archiv-medienmitteilungen.html

* Weitere Unterzeichner:

  1. Dr Kelly BéruBé (PhD), Director, Lung & Particle Research Group, Cardiff University
  2. Dr David Bunton (PhD), Chief Executive Officer, Biopta, Ltd, Glasgow
  3. Dr Margaret Clotworthy (PhD), Director, Human Focused Testing, Cambridge
  4. Dr Ann Cooreman (PhD), Chief Operating Officer, Tissue Solutions Ltd, Clydebank
  5. Professor Anne Dickinson, Director, Alcyomics Ltd, Newcastle upon Tyne
  6. Professor Barry Fuller, Department of Surgery, UCL Medical School, London
  7. Dr B J Nathan Griffiths (PhD), Commercial Director, Abcellute & Abcellute Tissue Bank, Cardiff
  8. Dr Morag McFarlane (PhD), Chief Scientific Officer, Tissue Solutions Ltd, Clydebank
  9. Professor Chris Hillier (PhD), Professor of Physiology, Glasgow Caledonian University
  10. Anup Patel, Consultant Urological Surgeon, St. Mary’s Hospital, Imperial College Healthcare NHS Trust and Chairman of Clinical Studies Committee, European Association of Urology Research Foundation
  11. Professor Barbara Pierscionek, Head of Vision Science Research, University of Ulster
  12. Dr Cathy Prescott (PhD), Director, Biolatris Ltd, Cambridge and Chair of the UK National Stem Cell Network Advisory Committee
  13. James Root, Senior Scientist, Pfizer, Sandwich
  14. Professor Gerry Thomas, Chair in Molecular Pathology, Imperial College, London, and Director of Scientific Services, Wales Cancer Bank
  15. Dr Katya Tsaioun (PhD), Chief Scientific Officer, Cyprotex, Macclesfield
  16. Dr J Malcolm Wilkinson (PhD), Chief Executive Officer, Kirkstall Ltd, Sheffield
  17. Professor Sir Ian Wilmut FRS FRSE, MRC Centre for Regenerative Medicine, University of Edinburgh
  18. Dr Amanda Woodrooffe (PhD), General Manager, Asterand UK Ltd, Royston
  19. Dr Karen L Wright (PhD), Peel Trust Lecturer in Biomedicine, Lancaster University

 

Quellenangaben:

  1. Archibald K, Coleman R, Foster C. Open letter to UK Prime Minister David Cameron and Health Secretary Andrew Lansley on safety of medicines. Lancet 2011; 377(9781):1915. http://www.thelancet.com/journals/lancet/article/...
  2. Lakhani N. Special report: prescription medicines. The Independent 2007 2007/10/21.
  3. Strengthening pharmacovigilance to reduce adverse effects of medicines. European Commission, 2008. (Accessed 10.5.2011, at http://ec.europa.eu/health/files/...)
  4. Innovation Stagnation. Challenge and Opportunity on the Critical Path to New Medical Products : U.S. Department of Health and Human Services. Food and Drug Administration (FDA); 2004 03/2004.
  5. Safety of Medicines Bill. House of Commons, 2010. (Accessed 10.5.2011, at http://www.publications.parliament.uk/pa/cm201011/...)
  6. Early day motion 475: safety of medicines. House of Commons, 2010. (Accessed 12.5.2011, at http://www.parliament.uk/edm/2010-12/475.)
  7. Z.B. Medienmitteilung der AG STG vom 19. Januar 2011 «Amerika erhöht die Sicherheit für Patienten – Namhafte US-Institutionen setzen auf tierversuchsfreie Testmethoden» http://www.agstg.ch/medienmitteilung-vom-19-januar-2011-amerika-setzt-auf-tierversuchsfreie-testmethoden.html