Warum Tierversuche sowohl moralisch als auch ethisch verwerflich sind - Acht Streitfragen, beantwortet von Dr. med. Vernon Coleman - Teil 2

Acht Streitfragen, beantwortet von Dr. med. Vernon Coleman (2. Teil)

Die Tierversuchsbefürworter – gleichgültig, ob sie aktiv oder passiv mitwirken – müssen sich darüber im Klaren sein, dass sie zu den ideologischen Fanatikern gehören, denen jedes Mittel recht ist, um einen vermeintlichen wissenschaftlichen Fortschritt zu erzielen. Tatsächlich haben sie ein zwiespältiges Verhältnis zum Leben und zur Natur überhaupt.
Der englische Arzt Vernon Coleman hat in acht Streitfragen einige moralische und ethische Argumente aufgelistet, die eindeutig gegen Tierversuche sprechen. Eine weitere Argumentationshilfe für die Tierversuchsgegner im Gespräch mit den «Mitläufern» der Vivisektion, aber auch mit den Tierexperimentatoren selbst.

Anmerkung von Dr. med. Coleman: Wie die meisten modernen Tierversuchsgegner greife ich bei meiner Argumentation gegen Tierversuche bevorzugt auf wissenschaftliches und medizinisches Material zurück. Die moralischen und ethischen Argumente sind jedoch ebenfalls wichtig und sollten daher nicht vernachlässigt werden.


Moralische Streitfrage Nummer 5:

Es spielt keine Rolle, ob Tiere denken können oder nicht: Wir sind stärker und überlegen, also ist es unser gutes Recht, ganz nach unserem Belieben mit ihnen umzuspringen.

Erstaunlicherweise hört man dieses Argument recht häufig. Eine grosse Zahl von Vivisektoren scheint der Überzeugung zu sein, der Stärkere sei moralisch berechtigt, mit dem Schwächeren zu tun, was ihm gefällt. Anscheinend erkennen die Befürworter dieser These nicht, dass sich dasselbe Argument mit der gleichen Logik auch auf die Gattung Mensch anwenden lässt und schon oft, auf grausamste Art, angewendet wurde.

Dr. Vernon Coleman hat viele Bücher rund um das Thema Medizin und Gesundheit veröffentlichtWenn sich mit der Suche nach neuem Wissen Grausamkeiten rechtfertigen lassen, müssen wir uns dessen bewusst sein, dass Wissenschaftler sich für gewöhnlich schwer damit tun, moralisch zwischen Tierversuchen und Menschenversuchen zu unterscheiden.

Es muss ebenfalls darauf hingewiesen werden, dass zwar viele Wissenschaftler selbst die grösste Schandtat gerne mit dem Streben nach neuen Erkenntnissen rechtfertigen, doch nur sehr wenige (wenn überhaupt einige) bereit sind, ihre Experimente auf eigene Kosten oder in ihrer Freizeit durchzuführen. Der Grossteil wissenschaftlicher Versuche wird heutzutage von äusserst gut bezahlten Wissenschaftlern in äusserst gut ausgerüsteten Labors durchgeführt.

Denjenigen unter uns, die Tierversuche für unannehmbar halten (gleichgültig, wie viel «Wissen» sie uns auch immer erschliessen mögen), sollte klar sein, dass die grosse Mehrheit dieser Versuche mit öffentlichen Geldern finanziert wird, und das zu einer Zeit, in der sich viele darüber einig sind, dass es dem öffentlichen Dienst massiv an Geld fehlt.

Ich frage mich, wie viele Forscher mit ihren Tierversuchen fortfahren würden (fest entschlossen, zum Wohle der Allgemeinheit unseren Wissensschatz zu bereichern), wenn sie diese aus der eigenen Tasche bezahlen müssten, anstatt fette Gehälter aus öffentlichen Mitteln zu kassieren. Ich nehme einmal an, dass viele Wissenschaftler ganz plötzlich feststellen würden, dass viel wichtigere Aufgaben auf sie warten. Mit anderen Worten: Viele Vivisektoren treibt nicht das Streben nach neuen Erkenntnissen, sondern die gute alte Geldgier.


Moralische Streitfrage Nummer 6:

Tierversuche sind gerechtfertigt, weil sie für den Fortschritt der Menschheit unerlässlich sind.

Gerne greifen Tierversuchsbefürworter auf folgende Argumentationsstrategie zurück: Man wähle einen passenden Zeitpunkt in der Vergangenheit aus, weise auf alle wissenschaftlichen Fortschritte hin, die seitdem stattgefunden haben, um dann zu argumentieren, dass kein einziger dieser Fortschritte ohne Tierversuche erzielt worden wäre.

Dieses Argument hat so viel mit Logik zu tun wie Buttercremetorte mit einer ausgewogenen Ernährung.

KZ-Wissenschaftler rechtfertigten ihre grausamen Versuche damit, dass diese dem medizinischen Fortschritt dienenZunächst ist es unlogisch, vorzubringen, dass Tierversuche unerlässlich und aufschlussreich seien, nur weil sie durchgeführt wurden. Tatsächlich haben Tierversuche den Fortschritt eher behindert als vorangetrieben. Ebenso gut könnten Sie argumentieren, dass Menschen gelernt haben, schneller zu laufen und höher zu springen, seit man mit Tierversuchen begann, und dass auch hier folglich ein Zusammenhang bestehen muss. Mit der gleichen Leichtigkeit und dem gleichen Mass an Vernunft könnten Sie die Behauptung aufstellen, dass wir den Tierversuchen auch die Entwicklung des Fernsehers verdanken und wir uns immer noch auf den städtischen Ausrufer verlassen müssten, wenn wir keine Affen, Katzen und Hunde gequält hätten.

Auch dann, wenn Tierversuche tatsächlich einen Nutzen gehabt hätten, wäre es absurd zu behaupten, ohne sie hätten Wissenschaftler überhaupt keine Fortschritte erzielt. Eine solche These stellt eine schwere Beleidigung der Intelligenz und Findigkeit der Wissenschaftler dar und setzt voraus, dass nur diejenigen unter ihnen wirklich kreativ sind und Schöpfergeist besitzen, die bei lebendigem Leibe Mäuse zerstückeln. Das ist eindeutig Unsinn.


Moralische Streitfrage Nummer 7:

Tierversuche finden ihre Rechtfertigung darin, dass wir dank solcher Untersuchungen unseren Wissensschatz vergrössern.

In der Regel versuchen Wissenschaftler ihre Arbeit mit dem Argument zu rechtfertigen, dass sie dazu beitragen, Leben zu retten. Sie kennen keine Skrupel, wenn es darum geht, sich weit verbreitete Ängste zunutze zu machen, um ihre Karrieren zu sichern. Derartige Argumente lassen sich jedoch nur aufrechterhalten, solange keine Fakten gefordert werden. Wissenschaftler sehen sich immer öfter gezwungen, diese Verteidigungsstrategie aufzugeben.

In die Enge gedrängt und unfähig, ihr Tun praktisch oder medizinisch zu rechtfertigen, bringen Wissenschaftler oft vor, ihre Arbeit sei schon allein aus dem einfachen Grunde vertretbar, dass durch sie der menschliche Wissensstand erweitert werde. Die Arbeit rechtfertigt sich selbst, so geben sie vor, und bedarf gar keines praktischen Sinns und Nutzens. (Anmerkung der Redaktion: Stichwort Grundlagenforschung)

Auschwitz: Halbverhungerte Kinder mit furchtbaren Brandwunden nach medizinischen VersuchenZu versuchen, dieses Argument mit moralischen oder ethischen Argumenten zu widerlegen, ist wahrscheinlich ebenso sinnlos, wie es sinnlos gewesen wäre, Josef Mengele mit den Worten, er handle «falsch», von seinen Greueltaten abbringen zu wollen. In der Geschichte der Wissenschaft gab es immer schon Forscher, deren überzeugtes Streben nach neuen Erkenntnissen jede noch so abstossende Handlung sanktioniert hat. Wie schon Nazi-Wissenschaftler und ihre damaligen japanischen Kollegen unzählige Versuche an Menschen ohne jegliche Gewissenbisse durchführten, scheinen auch die heutigen Tierversuchsbefürworter zu glauben, ihr Tun, egal wie grausam, werde dadurch legitimiert, dass es unseren Wissensstand erweitert.

Wer sich von diesem Argument überzeugen lässt, könnte sich gelegentlich einmal fragen, wo (wenn überhaupt) hier ein Schlussstrich gezogen werden sollte. Rechtfertigt das Streben nach neuen Einblicken jede Handlung? Einige Wissenschaftler würden diese Frage bestimmt bejahen, und es gibt reichlich Beweise dafür, dass sich sogar heute in unserer westlichen Welt Ärzte bereit zeigen, an Patienten, für die sie Sorge tragen, ohne sie zu fragen höchst riskante Experimente durchzuführen.

In meinem Buch «The Health Scandal» gehe ich auf eine ganze Reihe solcher Fälle ein. So wurden zum Beispiel Frauen spezielle Augentropfen verabreicht, um die Entwicklung des grauen Stars experimentell untersuchen zu können. Und Kindern gab man Medikamente, um den natürlichen Genesungsprozess nach einer Leberinfektion zu verhindern.

Die unglaublichsten Versuche stellte vielleicht Doktor Myrtle B. McGraw von der Columbia University in den USA an. McGraw bezog insgesamt 42 Babys im Alter von 11 Tagen bis zweieinhalb Jahren in ihre Versuche mit ein. Diese bestanden unter anderem darin, die Babys unter Wasser zu halten, um zu sehen, wie sie reagieren.

In dem Artikel, in dem sie ihre Arbeit beschreibt, berichtet Dr. McGraw, dass die Babys mit ihren Gliedmassen «krampfartige Bewegungen» ausführten. Wie sie fortfährt, griffen die Kleinkinder nach der Hand des Experimentators und versuchten, sich das Wasser aus dem Gesicht zu wischen. Die Ärztin zeigte sich erstaunt darüber, dass «die Flüssigkeitsaufnahme beträchtlich gewesen sei», und liess die Kinder husten.

Nazi-Illustration aus dem Jahr 1936. – Heute prahlen Genforscher, dass sie sog. «gutes Genmaterial» von «schlechtem» trennen können. Stellen auch bei uns bald die Genforscher die Rechnung auf, wie viel es kostet, Menschen mit «schlechtem Genmaterial» bis zum Rentenalter «durchzuschleppen»?In den letzten Jahrzehnten wurden Tausende von Patienten einer experimentellen Gehirnchirurgie unterzogen (wer mehr zu diesem Thema erfahren möchte, den verweise ich auf mein Buch «Paper Doctors»). In Grossbritannien haben Chirurgen vielen Patienten absichtlich und über einen langen Zeitraum schwere Hirnschäden zugefügt, um Menschen zu behandeln, die so verschiedene Krankheitsbilder aufwiesen wie Hautausschläge, asthmatische Anfälle, chronischen Rheumatismus, nervöse Anorexie, Tuberkulose, Bluthochdruck, Angina und durch Barbiturate verursachte Angstzustände. Patienten wurden Krebszellen injiziert, um zu beobachten, ob sie an Krebs erkranken würden oder nicht.

Ohne dass sich irgendjemand die Mühe macht, sie um Erlaubnis zu fragen, werden Patienten auf der ganzen Welt neue, ungetestete Medikamente verabreicht, so dass Ärzte ihre Reaktionen verfolgen können. Viele der Wissenschaftler, die Tierversuche durchführen oder gutheissen, befürworten auch Versuche an Menschen. Ihrer Ansicht nach sind solche Versuche gerechtfertigt, weil sie dem Menschen neue Kenntnisse eröffnen oder weil sie zur Entwicklung neuer Behandlungsmethoden beitragen.

«A human life is nothing compared with a new fact.»
E. E. Slosson


Ein amerikanischer Wissenschaftler stellte fest, dass «ein Menschenleben im Vergleich zu einer neuen Erkenntnis bedeutungslos ist... Das Ziel der Wissenschaft ist die Erweiterung des menschlichen Wissensschatzes – ohne jede Rücksicht auf menschliches Leben.» Als ein anderer Wissenschaftler scharf kritisiert wurde, weil er Menschen in einem Pflegeheim für ein Experiment benutzt hatte, erwiderte er, dass er ja wohl schlecht hätte Wissenschaftler nehmen können, da diese viel zu wertvoll seien.


Moralische Streitfrage Nummer 8:

Jedes Jahr werden Tausende von Tieren eingeschläfert, weil sie krank sind oder ausgesetzt wurden. Es bietet sich an, diese Tiere zu Versuchen heranzuziehen, statt sie ungenutzt sterben zu lassen.

Eines seiner im Text genannten Bücher: «The Health Scandal» (Der Gesundheits-Skandal)Die Wissenschaftler, die diese These ins Feld führen, scheinen nicht zu erkennen, dass es noch längst nicht ein und dasselbe ist, ob man ein Tier einschläfert oder es einer Reihe von schmerzhaften, entwürdigenden wissenschaftlichen Prozeduren aussetzt.

Liesse man dieses Argument gelten, könnte daraus die Forderung entstehen, auch sterbende, einsame oder unerwünschte Menschen zu Versuchen heranzuziehen. Wer diese Behauptung vertritt, scheint nicht zu begreifen, dass das Töten von kranken oder ausgesetzten Tieren mehr der Befriedigung menschlicher als der Befriedigung tierischer Bedürfnisse dient. Tiere zu töten, nur weil sie «nicht gebraucht» werden, ist moralisch nicht zu rechtfertigen.
Man kann ein ethisches Argument nicht auf eine ethisch nicht vertretbare Begründung stützen.

Der entscheidende Argumentationsfehler

Die Mehrzahl der Wissenschaftler, die sich für Tierversuche einsetzen, leiten ihre Argumentation mit der Aussage ein, dass die Ergebnisse von Tierversuchen dazu verwendet werden, den Menschen heimsuchende Krankheiten behandeln oder gar ihr Ausbrechen verhindern zu können. Im nächsten Argumentationsschritt stellen sie klar, dass wir uns angesichts der Qualen, welche die Tiere zu erleiden haben, nicht beunruhigen müssen, da Tiere ja ganz anders sind als Menschen.

Diese beiden Argumente passen nicht so recht zusammen.

Wenn Tiere den Menschen so ähnlich sind, dass Ärzte die Versuchsergebnisse schätzen, dann sind die Tausende von tagtäglich durchgeführten barbarischen Experimenten aus moralischen und ethischen Gründen unerträglich und unentschuldbar.

Unterscheiden sich Tiere dagegen so grundlegend von Menschen, dass sie nicht leiden, wo Menschen ohne Zweifel die entsetzlichsten Qualen empfinden würden, dann müssen die Versuchsergebnisse wertlos sein.


  Dr. med. Vernon Coleman, Devon, England, www.vernoncoleman.com
(Mit freundlicher Genehmigung: «raum&zeit», www.raum-und-zeit.com)


Den ersten Teil  «Warum Tierversuche sowohl moralisch als auch ethisch verwerflich sind» finden Sie unter: Acht Streitfragen, beantwortet von Dr. med. Vernon Coleman