Karriere ohne Tierversuche - Eine Wissenschaftlerin, die Mut beweist

Eine Wissenschaftlerin, die Mut beweist

Das folgende Interview wurde mit einer Wissenschaftlerin geführt, die anonym bleiben möchte. Die Entschlossenheit, mit der sie eine wissenschaftliche Karriere ohne Tierexperimente anstrebt, ist beispielhaft und kann als Vorbild für andere dienen.

Antidote Europe: Von Zeit zu Zeit erhält unsere Organisation Anrufe von Studierenden, die uns um Rat fragen. Diese wünschen sich, dass sie im Rahmen ihres Naturwissenschafts- oder Biologiestudiums nicht mit Tieren experimentieren oder Tiere sezieren müssen. Können Sie uns beschreiben, welche Erfahrungen Sie diesbezüglich während Ihres Studiums gemacht haben? Wie haben Sie es angestellt, Ihrem Prinzip, Tieren keinen Schaden zuzufügen, treu zu bleiben und doch einen Abschluss zu machen?

Wissenschaftlerin: Ich habe an britischen Universitäten (UMIST in Manchester, UCL in London, Universität Oxford) studiert. Dabei habe ich von Beginn an unmissverständlich klar gemacht, dass ich keine Tiere sezieren oder Experimente durchführen möchte, an denen Tiere beteiligt sind. Ich wurde somit auch nie dazu gezwungen, an solchen Experimenten teilzunehmen. Später allerdings, während meines Doktorats in Oxford, gab mein Doktorvater (ein ordentlicher Professor) klar seinem Missfallen Ausdruck, dass ich mich nicht an jenem Teil des Projekts beteiligen wollte, das die Untersuchung von Organen, die Mäusen entnommen wurden, beinhaltete. Mit diesem Experiment wurde die Expression eines Proteins untersucht. Die Aufgabe mit den Mäuseorganen wurde einem anderen Studierenden übertragen, während ich mit der Untersuchung der Molekularbiologie beauftragt wurde. Obwohl ich die Ältere von beiden war, erschien der Name des Kollegen an erster Stelle des wissenschaftlichen Berichts.

Mobbing gegen innovative Forscher kommt leider sehr oft vorAuch wenn es mir gelang, an meinen Überzeugungen festzuhalten, so kann ich mir doch sehr gut vorstellen, dass es einem jungen Wissenschaftler schwerfallen kann, «nein» zu sagen. Insbesondere wenn man mit dem, was man geheissen wird zu tun und was für wissenschaftliche Publikationen als notwendig erachtet wird, nicht einverstanden ist, kann es durchaus sein, dass einem entweder der Doktortitel gänzlich verweigert wird oder dass es viel schwieriger ist, ihn zu erwerben. Leider ist es immer noch so, dass die Forschung an und mit Tieren von «etablierten Professoren» und «langjährigen Leitern von Forschungslabors» immer noch als für den Fortschritt in der Forschung notwendig erachtet wird. Und auch dass diese Forschung obligatorisch für Artikel in renommierten wissenschaftlichen Publikationen ist. Eine Freundin von mir wurde, obwohl sie Buddhistin und Vegetarierin ist und jegliche Tierversuche sowohl aus wissenschaftlichen als auch aus ethischen Gründen ablehnt, dazu gezwungen, Tierversuche durchzuführen, um ihr Doktorat abschliessen zu können.

Meine Strategie war einfach: Ich machte von Beginn an unmissverständlich klar, dass ich mich nicht an Tierversuchen beteiligen werde. Erstens, weil ich nicht daran glaube, dass sie wissenschaftlich valid sind (so wenig, wie ich daran glaube, dass die Extrapolierung der im Tierversuch «gewonnenen» Daten auf den Menschen Sinn macht). Und zweitens, weil ich damit meine tiefe Überzeugung verletzen würde, dass das Leben von Tieren einen eigenen Wert hat und dass Tiere keine Sachgegenstände sind, die von Menschen wie eine Ware benutzt werden können. Meine Weltanschauung beruht auf Artikel 18 der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: «Jeder hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht schliesst die Freiheit ein, über seine Religion oder Überzeugung frei zu bestimmen.» Und in der UNO-Deklaration von 1981 steht über die Beseitigung jeglicher Form von Intoleranz und Diskriminierung aufgrund der Religion oder des Glaubens in Artikel 1 u.a.: «Jedermann hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; das Recht auf freie Wahl der Religion oder Überzeugung; das Recht darauf, eine frei wählbare Religion oder Überzeugung zu besitzen – ohne durch Zwang in dieser Freiheit beschränkt zu werden.» In Übereinstimmung mit diesen grundlegenden und allseits anerkannten Rechten sollte niemand dazu gezwungen werden können, sich an Tierversuchen zu beteiligen. Dies schliesst auch Wissenschaftler mit ein. Italien ist übrigens das erste Land der EU, das in dieser Sache ein eigenes Gesetz erlassen hat. Gemäss diesem Gesetz ist ein Wissenschaftler, der sich gegen Tierversuche wendet, ein «Verweigerer aus Gewissensgründen».

Italien ist fortschrittlich. Als «Verweigerer aus Gewissensgründen» kann man in der Forschung einfacher auf Tierversuche verzichtenSo kann zum Beispiel ein Mitverfasser eines wissenschaftlichen Artikels neben seinem Namen die folgende Anmerkung anbringen: «Anmerkung: Der Verfasser hält fest, dass er mit der Verwendung von Tieren oder von Tiermodellen in der Forschung nicht einverstanden ist. Als Verfasser ist er einzig verantwortlich für den Einbezug der In-vitro-Forschung und für die an Menschen durchgeführten Untersuchungen, die in der vorliegenden Publikation erwähnt werden. Er ist in den Augen der italienischen Rechtsprechung ein «Verweigerer oder eine Verweigerin aus Gewissensgründen». Das entsprechende Gesetz wurde erlassen als «Legge no 413 del 12 ottobre 1993» und trägt den Titel «Norme sull’obiezione di coscienza alla sperimentazione animale» (italienisches Gesetz über die Verweigerung von Tierversuchen aus Gewissensgründen). Diese Form der Wahlfreiheit ermöglicht es wissenschaftlichen Autorinnen und Autoren, ihre Sicht darzulegen und an gemeinsamen Forschungsprojekten teilzunehmen, ohne ihre Überzeugungen verraten zu müssen. Darüber hinaus können sie ihre Überzeugungen anderen mitteilen und dadurch als Vorbild wirken.

Antidote Europe: Ursprünglich haben Sie Tierversuche aus moralischen Gründen abgelehnt. An welchem Punkt Ihrer Berufslaufbahn sind Sie zur Überzeugung gelangt, dass Tierversuche für die menschliche Gesundheit letztlich keinen Nutzen bringen?

Wissenschaftlerin: In meinem Fall war das schon ganz zu Beginn meines Studiums der Fall. Es erschien mir unwissenschaftlich, etwas an Tieren zu erproben oder eine menschliche Krankheit bei Tieren zu simulieren oder auch nur die DNA-Struktur eines Tieres zu verändern, indem ihr menschliche Gene beigegeben werden. Danach dann zu behaupten, das würde als Modell für den Menschen taugen und es könnten auf dieser Grundlage wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen werden, erschien mir als sehr unüberlegt. Schon früh sah ich, dass genetische Unterschiede zwischen Individuen derselben Spezies bestehen. Auch begriff ich, dass die Umwelt (Essensgewohnheiten, Lebensstil etc.) Auswirkungen auf die Ausbildung unserer eigenen Gene sowie auf die Interaktionen zwischen unseren Genen und den Proteinen im Körper hat. Zudem erkannte ich, dass das Immunsystem eines Individuums spezifische und komplexe Reaktionen auf externe Erreger oder die Umwelt zeigt, die ebenfalls nur und spezifisch für Menschen gelten und sich von den entsprechenden Reaktionen von Tieren unterscheiden. Es erschien mir schon damals klar, dass die Überzeugung, Tierversuche seien wissenschaftlich notwendig und es liessen sich aus Tierversuchen Heilmittel und -methoden für menschliche Krankheiten ableiten, eher ein Akt des Glaubens als rationales wissenschaftliches Vorgehen von Forscherinnen und Forschern ist, die menschliche Krankheiten untersuchen und wirksame Mittel dagegen finden wollen.

Antidote Europe: Zurzeit arbeiten Sie als Wissenschaftlerin im Forschungsbereich. Können Sie in einfachen Worten beschreiben, in welchem Forschungsfeld Sie tätig sind?

Wissenschaftlerin: Ich bin daran, mich für verschiedene Stipendien zu bewerben, die für praxisbezogene Forschungen ausgeschrieben werden. Für die Forschungen werden von Menschen Proben entnommen, die Antworten auf Fragen zu bestimmten Krankheiten liefern sollen (z.B. zu Raucherasthma, Zwangsstörungen oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen etc.). Die Antworten, die wir dabei finden, haben direkte Auswirkungen auf die Gesundheit des Patienten. Den Prozess, der dabei zum Tragen kommt, könnte man als Bench-to-bedside-Prozess bezeichnen, also als Prozess, bei dem die krankheitsbezogene Grundlagenforschung (bench) die klinische Therapie (bedside) beeinflusst und umgekehrt. Gleichzeitig bemühe ich mich, Forschungsgelder aufzutreiben, die dafür eingesetzt werden, tierversuchsfreie Testmethoden als Ersatz für Tierversuche sowohl anzuwenden als auch zu entwickeln.
Das Modell «PVC-Ratte» ersetzt Ratten als Tiermodelle im Studium. Mit diesem Modell können rund 25 mikrochirurgische Techniken trainiert werdenWeiter bin ich beteiligt am Aufbau einer Datenbank mit menschlichen Proben (BioBank), die von Forscherinnen und Forschern genutzt werden kann für Grundlagen¬forschung und angewandte Forschungen. Diese Datenbank soll dazu beitragen, dass die gewonnenen Erkenntnisse schneller und wirkungsvoller in die medizinische Praxis und die Entwicklung von Heilmitteln für menschliche Krankheiten transferiert werden können.
Diese Arbeiten sind eine Ergänzung zu meiner Lehrtätigkeit an der Universität und der kürzlich erfolgten Beschaffung von öffentlichen Geldern, die dazu dienen, in Zusammenarbeit mit einer renommierten Universität in Rom einen Kurs für tierversuchsfreie Testmethoden aufzubauen. Die besagte Universität unterstützt Initiativen zur Verbreitung von Wissen über wissenschaftliche Methoden, die auf Tierversuche verzichten. Die Kurse richten sich an Nachdiplom-Studierende, welche ja den Nachwuchs bilden für die Grundlagenforschung sowie die angewandte Forschung.

Antidote Europe: Sind Sie oder waren Sie aufgrund Ihrer Ablehnung von Tierversuchen jemals Opfer von institutionellen Einschüchterungsversuchen? Und falls das der Fall war – wie sind Sie damit umgegangen, und was raten Sie Personen, die davon betroffen sind?

Wissenschaftlerin: Nun – das ist ein heikles Thema, und der Nachweis ist schwierig zu erbringen. Die Grenze, die «institutionelle Einschüchterung» von «Verhinderung von Forschung» und «Diskriminierung aufgrund der Überzeugung, dass Tierversuche sowohl unnötig als auch grausam sind», trennt, ist sehr dünn. Es ist richtig, dass die Arbeit in einem «konventionellen» Forschungslabor einer sogenannt «normalen» Institution immer noch sehr schwierig ist, wenn man seine Haltung offen darlegen will. Man wird dafür ausgelacht, angefeindet oder persönlich kritisiert. Ich habe mich dazu entschlossen, meine Überzeugungen offenzulegen und nicht gleichsam «undercover» zu arbeiten. Ich mache dies aus hauptsächlich zwei Gründen: Erstens glaube ich, dass wir als Beispiel für die neue, andere Welt, in der wir leben möchten, vorangehen müssen, wenn wir das alte System verändern wollen. Wir, also die «alternativen» Wissenschaftler, müssen zeigen, woran wir glauben, und andere Wissenschaftler dazu bringen, unserem Beispiel zu folgen oder wenigstens einmal innezuhalten und nachzudenken.
Die AG STG fördert und unterstützt aktiv die Etablierung tierversuchsfreier Forschungsmodelle in Ausbildung und StudiumZweitens, wenn sie sehen, dass es noch mehr Personen gibt, welche die konventionelle Art von Forschung ablehnen, können andere Wissenschaftler, welche den Status quo bereits hinterfragt haben, eher dazu ermutigt werden, ebenfalls zu ihren Überzeugungen zu stehen. Diese werden dann ihre Überlegungen mit anderen teilen und sich ebenfalls gegen eine Forschung aussprechen, die immer noch auf Tierversuche setzt.
Und noch etwas. George Bernard Shaw sagte einmal: «Man entscheidet nicht, ob ein Experiment gerechtfertigt ist oder nicht, indem man einfach zeigt, dass es irgendwie von Nutzen ist. Experimente unterscheidet man nicht nach nützlich oder nutzlos, sondern nach barbarisch oder zivilisiert.» Selbst wenn Wissenschaftler mittels «Experimenten» an Menschen, die nicht für diese Zwecke missbraucht werden möchten, medizinische Probleme lösen und Heilmittel für menschliche Krankheiten finden könnten, so würde das von der Gesellschaft trotzdem nicht als «richtig» empfunden und eingeschätzt. Das Recht, nicht zu diesem Zweck missbraucht zu werden, sollten wir auch auf andere Arten, auf andere Lebewesen übertragen, für die wir exakt dieselbe Verantwortung übernehmen und tragen sollten, wie wir dies für unsere eigene Spezies auch tun.

Antidote Europe: Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für dieses Interview genommen haben. Möchten Sie noch auf Aspekte hinweisen und eingehen, die in diesem Gespräch nicht angesprochen wurden?

Wissenschaftlerin: Zwei Aspekte möchte ich noch speziell erwähnen: Ausbildung und Mut. Die Ausbildung auf Universitätsniveau in Fakultäten für Biologie, Medizin, Chemie und sämtlichen wissenschaftlichen und medizinischen Fächern in innovativen tierversuchsfreien Forschungsmethoden anstatt Tierversuchen ist absolut entscheidend. Zurzeit ist es noch so, dass das Ausbildungssystem die Verwendung von Tieren zu Forschungs- oder Ausbildungszwecken stützt. Es sollten aber Kurse in tierversuchsfreien Forschungs¬methoden angeboten werden. Künftige Forscherinnen und Forscher sollten darin ausgebildet werden, tierversuchsfreie Forschungsmethoden, die Tierversuche obsolet machen, zu verwenden, zu entwickeln und zu verbessern. Diese Forderung richtet sich nicht nur an Universitäten, sondern auch an private Forschungs¬institute sowie Forschungszentren mit industriellem Hintergrund etc.

Das zweite ist der Mut. Mut, einen anderen Weg zu gehen und andere mit auf diesen Weg zu nehmen; Mut, nein zum Status quo zu sagen; Mut, andere fühlende Wesen zu respektieren, auch wenn sie sich von unserer Spezies unterscheiden; Mut, das grundlegende Recht auf Leben von Tieren zu respektieren und sie zu beschützen, und schliesslich Mut, sich mit wissenschaftlichen und ethischen Argumenten gegen die Verwendung von Tieren im Namen der «Wissenschaft», der «Forschung» oder des «medizinischen Fortschritts» zu stellen. Wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, dann sollten wir uns darüber im Klaren sein, dass jedes Experiment, das für einen Menschen unzumutbar ist, auch für ein Tier unzumutbar sein sollte.

Antidote Europe
http://antidote-europe.org/interviews/another-courageous-scientist