Gravierende Mängel bei der Umsetzung
Die Schweiz verfügt im internationalen Vergleich über ein durchaus strenges Tierschutzrecht, wenngleich aus der Sicht des Tierschutzes auch hierzulande noch erhebliches Verbesserungspotenzial besteht. Ebenso entscheidend wie die Tierschutzbestimmungen selbst ist jedoch ihre konsequente Umsetzung. Gerade in diesem Bereich hapert es aber in vielen Kantonen.
Auch im Tierschutzrecht gilt die Binsenweisheit, dass jedes Gesetz nur so gut ist, wie es letztlich umgesetzt wird. Die Wirksamkeit der Vorschriften ist also nicht nur von ihrem Wortlaut abhängig, sondern vor allem auch von ihrer tatsächlichen Anwendung in der Praxis. Und gerade hier zeigen sich gravierende Mängel, vor allem wenn es um die Durchsetzung des strafrechtlichen Tierschutzes, das heisst um die Verfolgung und Ahndung von Tierquälereien und anderen Tierschutzdelikten, geht.
Zahlenmässig hat sich der Vollzug des strafrechtlichen Tierschutzes in den letzten zehn Jahren allerdings stark verbessert. Während 1990 in der ganzen Schweiz nur gerade 116 Strafverfahren wegen Tierschutzdelikten durchgeführt wurden, waren es 2000 bereits 325 und 2010 sogar 1063. 2011 wurde mit 1246 Verfahren ein neuer Höchstwert erreicht. Insgesamt werden Straftaten an Tieren heute also nachweislich viel häufiger zur Kenntnis genommen, zur Anklage gebracht und geahndet als noch vor wenigen Jahren.
Hohe Dunkelziffer bei Tierschutzfällen
Diese Entwicklung ist unbestritten positiv; sie darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die vermutete Dunkelziffer nicht untersuchter Tierschutzfälle nach wie vor enorm ist. Zudem lässt sich die beachtliche Zunahme der Anzahl verfolgter Tierschutzdelikte in erster Linie auf die pflichtbewusste Strafverfolgung einiger weniger Kantone – namentlich Bern, St. Gallen, Zürich und Aargau – zurückführen. In etlichen anderen Kantonen (so etwa in Glarus, Genf, dem Wallis und der Innerschweiz) hat sich die Situation in den letzten Jahren hingegen nur unwesentlich verbessert. Die von der Stiftung für das Tier im Recht (TIR) auf der Grundlage ihrer Straffälle-Datenbank erstellten Jahresanalysen der Schweizer Tierschutzstrafpraxis belegen regelmässig, dass der Verfolgung von Tierschutzdelikten vielerorts noch immer zu wenig Beachtung geschenkt wird. Die elektronische Fallsammlung mit mittlerweile rund 10 000 registrierten Tierschutzstrafverfahren seit 1982 ist auf www.tierimrecht.org ebenso abrufbar wie die ausführlichen Jahresanalysen der TIR.
Verschiedene Ursachen für Vollzugsmängel
Das teilweise dramatische Vollzugsdefizit hat vielfältige Gründe. Ein Hauptproblem liegt darin, dass die zuständigen Behörden von Straftaten an Tieren oftmals gar keine Kenntnis erlangen, weil sich diese im Verborgenen oder in den abgeschirmten Räumlichkeiten der Täter – die nicht selten mit den Haltern der betroffenen Tiere identisch sind – ereignen. Leider sehen allfällige Augenzeugen zudem häufig von einer Strafanzeige ab.
Doch auch den Strafverfolgungsorganen gemeldete oder von ihnen selbst festgestellte Taten werden längst nicht immer konsequent untersucht, obwohl dies bei sämtlichen Tierschutzdelikten von Amtes wegen – und nicht lediglich auf Antrag des Tierhalters hin – geschehen müsste. Dennoch werden Verdachtsmomente im Rahmen der polizeilichen Ermittlung oder staatsanwaltschaftlichen Untersuchung vielfach nur oberflächlich oder überhaupt nicht geprüft. Den zuständigen Behörden mangelt es oftmals nicht nur an personellen und zeitlichen Kapazitäten, sondern auch an den nötigen Fachkenntnissen im Tierschutzrecht. Bisweilen fehlt ihnen jedoch schlicht auch das Interesse an der Thematik.
Konsequente Durchsetzung der Strafbestimmungen erforderlich
Einem konsequenten Tierschutzvollzug zuwider läuft auch die Praxis etlicher kantonaler Veterinärdienste, Gesetzesverstösse allein auf dem Verwaltungsweg oder im persönlichen Gespräch mit fehlbaren Tierhaltenden anzugehen, ohne sie einer parallelen Strafverfolgung zuzuführen – obschon sie hierzu klar verpflichtet wären. Zweifellos sind Administrativmittel (Bewilligungsentzug, Beschlagnahme, Tierhalteverbot etc.) für den unmittelbaren Tierschutz am wirkungsvollsten. In vielen Fällen kann damit auf Missstände sofort reagiert werden. Für die betroffenen Tiere sind entsprechende Massnahmen darum unverzichtbar; sie ersetzen jedoch nicht eine angemessene Verfolgung bereits verübter Delikte (dasselbe gilt natürlich auch, wenn der fehlbare Tierhalter mit Subventionskürzungen belegt wird). Bei Straftaten muss neben einem allfälligen verwaltungsrechtlichen Verfahren zum direkten Schutz der Tiere stets auch ein strafrechtliches gegen den Täter geführt werden. Diese konsequente Umsetzung der Strafbestimmungen dient nicht nur der Schärfung des gesellschaftlichen Bewusstseins für einen respektvollen Umgang mit Tieren, sondern entfaltet auch eine starke Präventivwirkung zur Verhinderung weiterer Tierschutzverstösse.
Weitere Vollzugsmängel zeigen sich bei der Untersuchung und gerichtlichen Beurteilung von Tierschutzdelikten. Nicht selten sind die zuständigen Behörden mit den einschlägigen Bestimmungen zu wenig vertraut, was eine teilweise sehr uneinheitliche Strafpraxis zur Folge hat. Gewisse Tatbestände werden kaum je angewendet, andere sogar überhaupt nie. So ist bis anhin keine einzige Verurteilung wegen Qualzuchten erfolgt, die – obwohl sie das geltende Recht klar untersagt – in der Praxis immer noch alltäglich sind. Berührungsängste bestehen aber beispielsweise auch bei der Anwendung des Tierquälereiartikels im Pferdesport, bei der Umsetzung des Schutzes der Tierwürde oder beim Verbot von sexuellen Handlungen mit Tieren (Zoophilie). Letztlich sind die ausgefällten Sanktionen oftmals viel zu mild, sodass sie weder dem Leiden der betroffenen Tiere gerecht werden noch einen abschreckenden Effekt auf den Täter und die Gesamtgesellschaft entfalten.
Dringender Handlungsbedarf
Im Vollzug des strafrechtlichen Tierschutzes besteht also nach wie vor dringender Handlungsbedarf. Es kann nicht angehen, dass Tierschutzdelikte weiterhin bagatellisiert und statt der Opfer die Täter geschützt werden. Mancherorts hat der erforderliche Bewusstseinswandel mittlerweile zwar eingesetzt und sind klare Verbesserungen erkennbar. Zur Behebung des insgesamt noch immer erheblichen Defizits bedarf es aber landesweit einer weiteren Sensibilisierung für die Anliegen der Tiere und die Bedeutung des Rechts für deren Schutz. Tierquälereien sind keine Kavaliersdelikte, sondern müssen in jedem Einzelfall konsequent und mit der gleichen Gewissenhaftigkeit verfolgt werden wie Straftaten gegen Leib und Leben von Menschen. Dies betrifft bereits die polizeilichen Ermittlungen, die für die Beweissicherung und damit für das ganze Tierschutzstrafverfahren oftmals von entscheidender Bedeutung sind. Dasselbe gilt natürlich auch für Strafanzeigen und Hinweise aus der Bevölkerung.
Die zuständigen Behörden haben das Tierschutzstrafrecht aber nicht nur strikter, sondern auch klarer und einheitlicher als bislang umzusetzen. Die korrekte Interpretation und Anwendung der einschlägigen Bestimmungen setzt einiges an Fachwissen voraus. Um die neuralgischen Amtsstellen (Veterinärbehörden, Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichte) mit engagierten und kompetenten Personen besetzen zu können, ist deren vertiefte Ausbildung im Tierschutz und Tierschutzrecht unverzichtbar.
Ein wesentliches Problem für den Vollzug liegt zudem im Umstand, dass es in den allermeisten Kantonen an einer spezifischen Vertretung der Interessen der Tiere – die diese naturgemäss nicht selber wahrnehmen können – fehlt. Von der für das Strafverfahren fundamentalen Waffengleichheit zwischen Opfern und Tätern kann also keine Rede sein. Die Verantwortung für die Schaffung geeigneter Strukturen und Instrumente für die Durchsetzung des Tierschutzstrafrechts liegt bei den Kantonen. Seit sich diese 2010 geschlossen gegen die schweizweite Einführung von Tieranwälten ausgesprochen haben, stehen sie umso mehr in der Pflicht, den Vollzug auf andere Weise sicherzustellen.
Damit die an sich klaren Bestimmungen des strafrechtlichen Tierschutzes nicht lediglich toter Buchstabe bleiben, sind die aufgezeigten Mängel unverzüglich anzugehen. Alles andere widerspricht nicht nur dem Wortlaut und Sinn des Gesetzes, sondern auch dem dahinter stehenden unmissverständlichen Volkswillen, wonach Tierquäler für ihre Taten angemessen zur Verantwortung zu ziehen sind.
Dr. iur. Gieri Bolliger / lic. iur. Andreas Rüttimann, Stiftung für das Tier im Recht (TIR)
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Erstellungsdatum: 22.8.2013
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