Fehlverhalten und Justizfälle
Sind die Millionen- und teils sogar Milliardenbussen gegen Pharmafirmen Einzelfälle? Wie hoch und weshalb werden Pharmafirmen gebüsst, und welche Ermittlungen sind im Gange? Es geht nicht um die Frage, ob man für oder gegen die «Big Pharma» ist, es geht um unsaubere Machenschaften und illegale Praktiken – und es geht um Millionen Menschen- und Tierleben.
Ungeeignete, mittelmässige oder gar nutzlose Medikamente werden nach allen Regeln der Kunst – immer öfter mit illegalen Methoden – an die Frau und den Mann gebracht. Es werden Ärzte, Forscher, Studien und Politiker manipuliert. Es werden Studien beschönigt, Wissenschaftlichkeit vorgetäuscht, negative Studienergebnisse unterdrückt und Wirkungen übertrieben. Produktionsprozesse hat man nicht im Griff, und es werden überrissene Preise verrechnet. Bestechungsgelder (Kickbacks) werden an Ärzte für Verordnungen bezahlt, und Kritiker werden bedroht und eingeschüchtert.
Nein, es handelt sich hier nicht um die Mafia. Bei der Pharmaindustrie gewinnt man immer mehr den Eindruck, es gehe nur ums Verkaufen – so viel und so teuer wie möglich. Die Pharmaindustrie vertreibt teilweise wichtige und lebensrettende Medikamente, und sie ist eine notwendige Industrie. Leider aber geht es offensichtlich immer mehr hauptsächlich um Gewinnmaximierung, und es wird dabei immer öfter zu illegalen Mitteln gegriffen.
Im Folgenden eine Zusammenstellung von Bussen der Pharmaindustrie der letzten Jahre (mehrheitlich von der US-Justiz, in Europa geht man das Thema noch etwas zaghaft an).
Die Liste kann nicht vollständig sein und erhebt somit auch keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Jahr | Unternehmen | Grund | Busse Mio. $ |
2010 | Novartis | Marketingfehlverhalten, Kickbacks (Trileptal) |
422,5 |
2010 | Pfizer | Marketingfehlverhalten, Schmiergeld (Bextra, Lipitor, Viagra) | 2300 |
2010 | Eli Lilly | Marketingfehlverhalten (Zyprexa) | 1400 |
2010 | Pfizer | Marketingfehlverhalten (Neurotonin) | 141 |
2010 | Pfizer | Mutmasslich illegaler Freilandversuch an Kindern in Afrika (Trovan), Druck auf Staatsanwaltschaft | 75 |
2010 | GlaxoSmithKline | Produktqualität (Avandia, Paxil) und Produktionsmethoden | 750 |
2010 | Dey | Preisbetrug | 280 |
2010 | Forest | Marketingfehlverhalten (Levothroid, Celexa, Lexapro) | 313 |
2010 |
Johnson & Johnson | Marketingfehlverhalten (Topamax) | 81 |
2010 | AstraZeneca | Off-Label-Marketing, Kickbacks (Seroquel) | 520 |
2010 | Teva Pharma | Anwendungsrisiken (Propofol) | 500 |
2010 | Johnson & Johnson | Marketingfehlverhalten (Risperdal) | 258 |
2010 | Roche | Marketingfehlverhalten und Preismanipulation (Rituxan) | 20 |
2010 | Merck Serono | Kickbacks (Rebif) | 44,3 |
2010 | Pfizer | Brustkrebs (Prempro) | 72 |
2010 | Merck (MSD) | Marketingfehlverhalten (Vioxx) | 950 |
2010 |
Elan | Marketingfehlverhalten (Zonegran) | 203 |
2011 | Novo Nordisk | Marketingfehlverhalten (Novoseven) | 25 |
2011 | Novo Nordisk | Kauf von Patientendaten (Novolin, Novolog) | 1,7 |
2011 | AstraZeneca | Marketingfehlverhalten, Irreführung bei Nebenwirkungen, Nichtveröffentlichung negativer Resultate (Seroquel) | 68,5 |
2011 | Johnson & Johnson | Korruption | 70 |
2012 | GlaxoSmithKline | Marketingfehlverhalten (Paxil, Wellbutrin, Avandia, Advair, Lamictal, Zofran), Kickbacks (Imitrex, Lotronex, Flovent, Valtrex), überzogene Rechnungen | 3000 |
2012 | Pfizer | Brustkrebs (Prempro) | 45 |
2012 | Pfizer | Brustkrebs (Prempro) | 10,4 |
2012 | Pfizer | Brustkrebs (Prempro) | 896 |
2012 | Merck (MSD) | Marketingfehlverhalten (Vioxx) | 33,6 |
2012 | Abott | Marketingfehlverhalten (Depakote) | 1600 |
2012 | Johnson & Johnson | Marketingfehlverhalten (Risperdal) | 181 |
2012 | AstraZeneca | Marketingfehlverhalten (Seroquel) | 26 |
2012 | Pfizer, Ranbaxy | Generikaverzögerung, Kartellabsprache («Pay for Delay») (Lipitor) | Klage |
2012 | Teva Pharma | Anwendungsrisiken (Propofol) | 250 |
2012 |
Pfizer | Korruption | 60 |
2012 | Teva | Korruption | Untersuchung (Subpoena) |
2012 | Bristol-Myers Squibb |
Korruption | Untersuchung (Subpoena) |
2012 | Bayer | Sammelklage (Yasmin) | 402,6 |
2012 | Bayer | Sammelklage (Yaz) | 610,5 * |
2012 | Johnson & Johnson |
Marketingfehlverhalten (Risperdal) | 158 |
2012 | Johnson & Johnson |
Marketingfehlverhalten (Risperdal) | 327 |
2012 | Johnson & Johnson |
Marketingfehlverhalten (Risperdal) | 1100 |
2012 |
Bayer | Marketingfehlverhalten (Aspirin) | 15 |
2012 | Sanofi-Aventis | Überzogene Rechnungen in Algerien (Overbilling) | 25 |
2012 | Sanofi-Aventis | Überzogene Rechnungen in Kanada (Quadrace, Pentacel) | 2,5 |
2012 | Roche | Verheimlichung von Nebenwirkungen | EMA Untersuchung * |
2012 | Johnson & Johnson | Fehlerhafte Hüftimplantate | 0,6 |
2012 | AstraZeneca | Irreführung bei Nebenwirkungen (Seroquel) | 46 |
2012 | Cypress Pharmaceutical | Marketingfehlverhalten (Hylira, Zaclir, Zacare) | 2,8 |
2012 | GlaxoSmithKline | Marketingfehlverhalten (Avandia) | 90 |
2013 | Novartis | Anklage wegen Bestechung (Kickbacks) von Apothekern für Nierentransplantations Medikament (Myfortic) | Anklage |
2013 | Novartis | Anklage wegen Bestechung von Ärzten im Falle von Bluthochdruck (Lotrel, Valturna) und Diabetes (Starlix) | Anklage |
2013 | Novartis | Untersuchung (Gilenya, Glivec) | Untersuchung |
2013 | Pfizer | Marketingfehlverhalten (Rapamune) | 491 |
2013 | Johnson & Johnson |
Schmiergelder (= Korruption) und Marketingfehlverhalten (Risperdal) | 2200 |
2013 | Lundbeck | Generikaverzögerung (Kartellabsprachen, Pay for Delay) (Citalopram) |
129 |
2013 | Johnson & Johnson |
Generikaverzögerung (Kartellabsprachen, Pay for Delay) in NL (Fentanyl) | 15 |
2013 |
Novartis | Generikaverzögerung (Kartellabsprachen, Pay for Delay) in NL (Fentanyl) | 7 |
2014 | GlaxoSmithKline, Roche, Novartis, … | Korruption, Bestechung von Ärzten und Behördenmitgliedern, erhöhte Preise (China) | Ermittlungen |
2014 | Novartis | Korruption (Exjade) | Klage |
2014 | Novartis | Irreführende Werbung in Japan (Diovan) | Klage |
2014 | Novartis, Roche | Preisabsprachen in Italien (Lucentis, Avastin) | Ermittlungen |
2014 | Novartis | Verschwiegene Nebenwirkungen in Japan (Krebsmittel Tasigna) | Rücktritte |
2014 | Takeda | Krebsrisiko verschwiegen (Actos, gegen Diabetes-2) | 6000 |
2014 | Eli Lilly | Krebsrisiko verschwiegen (Actos, gegen Diabetes-2) | 3000 |
*offen
Auch die Jahre davor sieht es nicht anders aus. Von 1987 bis 2011 zahlte die Pharmaindustrie über 30 Mrd. $ Bussgelder. Die Bussen sind fast immer sogenannte Vergleiche, die zwischen der US-Justiz und den entsprechenden Pharmaunternehmen zustande gekommen sind. Die Bussen wurden also ausgehandelt. Dies ist in der US-Justiz möglich. Leider sind deshalb in den wenigsten Vergleichen interne Dokumente veröffentlicht worden, die weitergehende Einblicke in das Geschäftsgebaren gezeigt hätten. Dies ist einer der Hauptnachteile für die Öffentlichkeit, wenn ein Vergleich ausgehandelt wird. Auch ist eine Firma dadurch nicht rechtskräftig verurteilt und kann praktisch so weitermachen wie bisher. Aber immerhin haben die entsprechenden Firmen für ihre Straftaten etwas bezahlen müssen – ein System, das bei uns wohl kaum denkbar ist. Die vollständigen Daten der Übereinkommen der US-Justiz mit Unternehmen finden Sie unter:
http://oig.hhs.gov/compliance/corporate-integrity-agreements/cia-documents.asp
Off-Label-Marketing
Eines der häufigsten Fehlverhalten ist das Off-Label-Marketing. Medikamente müssen wissenschaftlich geprüft und danach von den Gesundheitsbehörden zugelassen werden. Die Zulassung gilt dann für die untersuchte Krankheit. Ärzte sind danach aber etwas freier in der Anwendung. Sie dürfen das Medikament auch für andere Krankheiten einsetzen, wenn ziemlich klar ein Nutzen für den Patienten dadurch entsteht (diese «Zweckentfremdungen » sind somit manchmal gut und richtig). Die Pharmaunternehmen selbst dürfen in den USA nicht geprüfte/ bewilligte Anwendungen jedoch nicht vermarkten. Diese Vermarktung wird als Off-Label-Marketing bezeichnet. Beispielsweise wenn die Wirksamkeit für ein Medikament nur in einer bestimmten Krankheitskonstellation nachgewiesen wurde, darf das Medikament später nicht als Medikament für alle möglichen weiteren Krankheiten angepriesen und verkauft werden. Wenn hingegen klar ein wirklicher Nutzen festgestellt wird, dann kann die Firma dies natürlich zusätzlich bewilligen lassen. Beim Off-Label-Marketing der Pharmafirmen fehlt aber praktisch immer der ernsthafte wissenschaftliche Beweis für diesen erweiterten Nutzen.
US-Bussen für die «Big Pharma» bis Juli 2012
Untergraben der Wissenschaft
Die Hersteller von pharmazeutischen Produkten haben kommerzielle Interessen. Die Wissenschaft ist dabei ein notwendiges Übel, die Wahrheitssuche oft nicht das eigentliche Ziel. Es sind viele Fälle dokumentiert, wo dem wissenschaftlichen Nachweis «nachgeholfen» wurde. «Negative Ergebnisse» werden oft nicht publiziert. Von fünf Studien wurden nur zwei publiziert, und bis zu drei Viertel der untersuchten Patienten wurden unterschlagen. Auf den ersten Blick schien mit all diesen Manipulationen das Medikament wirksam zu sein – was aber mit allen Studiendaten nicht nachgewiesen werden kann. Auch auf vielfältige andere Arten wird und wurde, wie schon oft berichtet, die sogenannte Wissenschaftlichkeit von Studien verzerrt und verfälscht.
Lobbying
Die Pharmaindustrie nimmt mit druckvollem Lobbying Einfluss auf die Gesetzgebung. In den USA gibt es in Washington zweimal so viel Lobbyisten wie Parlamentarier. Die Pharma-Lobbyorganisation PhRMA verfügt über gut gefüllte Kassen. Auch in der Schweiz sieht die Sache nicht besser aus: Interpharma hat ständigen und direkten Zugang zum Schweizer Parlament und bei scheinbar kleinem Budget unermessliche Geldquellen und Möglichkeiten. Lobbying wird bei den Pharmaunternehmen vermutlich unter Marketing abgebucht. Novartis hat allein im Jahr 2011 über 13,4 Mrd. CHF für Marketing ausgegeben (2010 waren es 12 Mrd. CHF, 2009 10,7 Mrd. CHF – Quelle: Novartis-Geschäftsberichte). Damit werden hilfreiche und wirksame Gesetze weltweit verhindert oder verwässert.
Die grössten Pharmakonzerne der Welt (Umsätze 2011)
Unternehmen | Sitz | Umsatz (in Mrd. USD) | |
1 | Pfizer | USA, New York | 57,7 |
2 | Novartis | Schweiz, Basel | 54,0 |
3 | Merck & Co., Inc. (MSD) | USA, New Jersey | 41,3 |
4 | Sanofi-Aventis | Frankreich, Paris | 37,0 |
5 | Hoffmann-La Roche | Schweiz, Basel | 34,9 |
6 | GlaxoSmithKline | Grossbritannien, London | 34,4 |
7 | AstraZeneca | Grossbritannien, London | 33,6 |
8 | Johnson & Johnson | USA, New Jersey | 24,4 (nur Pharmageschäft, sonst total Umsatz: 67,2) |
9 |
Abbott | USA, Illinois | 22,4 |
10 |
Eli Lilly and Company | USA, Indianapolis | 21,9 |
Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Pharmaunternehmen
Verzögern von Generika («Pay for delay»)
Ein weiterer Trick der Pharmaindustrie zum Abkassieren bei den öffentlichen Gesundheitssystemen ist es, den Start von Generika nach Patentabläufen zu verzögern. Wie das geht? Patente sind zeitlich begrenzte Monopole. Nach dem Patentablauf kann der Markt spielen. Generika werden daher zu günstigeren Preisen verkauft. Die Patentinhaber haben jedoch öfters Absprachen mit den Generikaherstellern gemacht, damit diese mit dem Verkauf ihrer Medikamente noch zuwarten. Die dabei erwirtschafteten Monopolgewinne wurden untereinander aufgeteilt, wie die NZZ berichtete. Eine sogenannte Win-win-Situtation für die Pharmaindustrie, und dies auf Kosten der Prämien- und Steuerzahler.
Korruption
Neben den subtileren Methoden gibt es noch die «ganz plumpe» Korruption, z.B. mit Kickback-Zahlungen an Ärzte, Verbände, Patientenorganisationen und Weitere. Zum Beispiel bekommen beteiligte Ärzte im Nachhinein eine «Provision» für die Verschreibungen. Je mehr Medikamente ein solcher Arzt also verschreibt, desto mehr verdient er. Ältere und chronisch kranke Patienten sind dafür besonders geeignet. (Über Korruption berichteten wir bereits mehrmals ausführlich im «Albatros», Stichwort: korrupte Medizin.)
Kommentar
Die Pharmabranche präsentiert sich als grosse Wohltäterin der Menschheit. Bei genauerem Hinsehen ist jedoch vieles nicht so sauber, wie es aussieht, und die grossen Gewinne sind oftmals illegalem Verhalten zu verdanken. Die Bussen, obwohl sie hoch erscheinen, stehen leider in keinem Verhältnis zu den Gewinnen der Pharmaunternehmen. Die Bussen werden vermutlich einfach in die «Betriebskosten» mit einkalkuliert.
Die Manager der Pharmaindustrie gehören zu den bestbezahlten der Welt. Hohe Löhne scheinen «gerne» in umgekehrtem Verhältnis zu ethischem Verhalten zu stehen.
Die obigen Beispiele zeigen einen Ausschnitt aus dem grossen manipulativen Verhalten der Pharmaindustrie. Die fast unerschöpflichen finanziellen Mittel der «Big Pharma» können leicht eine korrumpierende Wirkung entfalten, denn finanzielle Beiträge sind fast immer und überall willkommen.
Patientenorganisationen müssen sehr vorsichtig sein im Umgang mit der Pharmaindustrie. Die Unabhängigkeit sollte gewahrt (bzw. wiederhergestellt) werden. Gefälligkeiten der Industrie sind gefährlich. Sich mehrende Fälle von «Begünstigungen » von der Pharmaindustrie haben bereits an der Glaubwürdigkeit von Patientenorganisationen gekratzt. Das Gleiche gilt auch für Ärzte und Wissenschaftler. Generell muss Sponsoring – wie Bestechung und Korruption oft verniedlichend genannt wird – grundsätzlich überdacht werden.
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überarbeitet von der AG STG
Erstellungsdatum: 28.08.2014
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