Die moderne Medizin im Spannungsfeld zwischen traditioneller Heilkunst und Naturwissenschaften: Die Rolle des Tierexperiments

Seit Urzeiten hat der Mensch versucht, Krankheiten und Verletzungen zu heilen und den Tod hinauszuschieben. Seine wesentlichen Erkenntnisquellen waren dabei vor allem die Beobachtung von gesunden und kranken Menschen und Tieren. Dazu kamen intuitive Erkenntnisse und Erfahrungen bezüglich der heilenden Wirkung von Pflanzen und Mineralien. Anatomische Untersuchungen von Verstorbenen spielten in manchen Epochen eine wichtige Rolle, zeitweise waren sie aus religiösen Gründen aber auch verboten. In allen Kulturen legten die Ärzte und Heiler das Schwergewicht auf Vorbeugung und Verhütung von Krankheiten durch sinnvolle Ernährung, Vermeidung von Giftstoffen und Ausgleich der physischen und psychischen Kräfte im Menschen. Auftretende Krankheiten versuchten sie durch Zubereitungen von unterschiedlichsten Arzneien, meist pflanzlicher Herkunft, zu heilen. Chirurgische Eingriffe waren den Ärzten zu allen Zeiten geläufig, wobei schon in der Antike der Patient mit halluzinogenen oder einschläfernden Kräutern in Bewusstlosigkeit versetzt wurde. Das wichtigste Ziel der medizinischen Schulen und Akademien war das Sammeln und die Weitergabe von Wissen im Umgang mit Krankheiten. Zu manchen Zeiten gab es aber auch Aussenseiter, welche versuchten, der Natur ihre Geheimnisse durch Experimente mit Tieren, Sträflingen oder Kriegsgefangenen zu entreissen. Die Rolle dieser gewaltsam erzwungenen Erkenntnisse blieb für die Entwicklung der Medizin gering. Bis ins späte 19. Jahrhundert befasste sich die Mehrheit der Ärzte und Heiler nach dem medizinischen Grundsatz «Nil nocere» – Vor allem nicht schaden – kaum mit der Frage, ob aus künstlich krank gemachten oder absichtlich verletzten Tieren Erkenntnisse für die Humantherapie gezogen werden könnten.
       

Die Einführung des Tierexperiments

Erst Mitte des 19. Jahrhunderts erhob der französische Physiologe Claude Bernard mit seinem Buch «Introduction a l´étude de la medicine experimentale» (Einführung in das Studium der Experimentalmedizin, 1865) das Tierexperiment zum Prüfstein jeglicher medizinischer Erkenntnis und gab der Medizin eine bis dahin unvorstellbare materialistische Richtung. Unter grauenhaften Bedingungen und ohne jede Anästhesie begann er systematisch mit festgenagelten oder festgebundenen Hunden und Katzen Operationen und physiologische Experimente durchzuführen. Wir wissen aus vielen Dokumenten, dass ein Grossteil der damaligen Ärzteschaft über die Grausamkeit seiner Methoden entsetzt war und auf Erkenntnisse aus seinem Labor lieber verzichten wollte. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts setzten sich jedoch die Anhänger der experimentellen Medizin an den Universitäten durch. Die Vivisektoren versuchten umgehend ihre im Experiment gewonnenen Resultate auf den Menschen anzuwenden. In vielen Fällen bedeutete dies für den Patienten ein bedauernswertes Schicksal, weil damals wie heute die Übertragbarkeit von tierexperimentellen Ergebnissen auf den Menschen absolut nicht abgeschätzt werden konnte. Immer war es die klinische Erfahrung, die darüber entschied, ob eine Methode oder ein Medikament beim Menschen erfolgreich angewandt werden konnte.       
       

Die tatsächliche Bedeutung des Tierversuchs in der Medizin

Da seit Claude Bernard viele medizinische Wissenschaftler gleichzeitig tierexperimentell und klinisch arbeiteten, erscheint es aus heutiger Sicht fast unmöglich, nachzuweisen, welche Erkenntnisse letztlich auf Tierexperimente und welches Wissen auf klinische Studien zurückzuführen sind. Ohne Zweifel versuchen seit Claude Bernard die Experimentatoren und ihre Anhänger jeden Erfolg oder Durchbruch bei der Behandlung von Krankheiten auf tierexperimentelles Forschen zurückzuführen. Moderne Medizinhistoriker haben aber längst nachgewiesen, dass die entscheidenden Fortschritte der Medizin nicht durch Tierexperimente bedingt sind (vgl. T. McKeown, Die Bedeutung der Medizin, Suhrkamp 1982). So gehörten bis ins frühe 20. Jahrhundert die Infektionskrankheiten zu den wichtigsten Todesursachen in den industrialisierten Ländern. Ihr massiver Rückgang seit der Jahrhundertwende, der zu einer bedeutenden Erhöhung der durchschnittlichen Lebenserwartung geführt hat, ist vor allem auf sozialmedizinische und hygienische Massnahmen bei gleichzeitiger Verbesserung der Ernährung und des Lebensstandards zurückzuführen, aber nicht auf die erst relativ spät erfolgte Entwicklung von Antibiotika und Impfungen.
       

Die Idee des Heilens

Die Einführung des Tierexperiments und der damit verbundenen naturwissenschaftlichen Ansätze verlagerte den Schwerpunkt der Medizin weg von der Idee des Heilens hin zu mechanistischen Vorstellungen bezüglich einer Reparatur defekter Organe. Heilung wurde im ursprünglichen Sinn mit ganzheitlichen Aspekten, welche Leib und Seele umfassen, assoziiert. Im Gegensatz dazu wird jedoch Heilen und Heilung von der heutigen Medizin nur dann als real anerkannt, wenn sie in den naturwissenschaftlich vorgegebenen Rahmen passen.
Aber woher wissen wir überhaupt, dass Heilen von der üblichen physikalisch definierten Realität insgesamt erfasst wird? Können wir ausschliessen, dass sich Heilung letztlich in einem Bereich abspielt, zu dem auch bislang mechanistisch nicht erklärbare Phänomene im Zusammenhang mit Bewusstsein, Geist oder Seele gehören?
Die systematische Einführung des Tierversuchs in die Medizin ab Mitte des 18. Jahrhunderts hat dazu geführt, dass vitalistische Ideen vom Heilen zunehmend durch naturwissenschaftlich überprüfbar erscheinende Modellvorstellungen ersetzt wurden. Wir können natürlich nur darüber spekulieren, was aus der Medizin geworden wäre, wenn das tierexperimentelle Forschungssystem nicht eingeführt worden wäre. Vielleicht hätten sich präventive Massnahmen, welche schon zum massiven Rückgang der Infektionskrankheiten führten, in umfangreicherem Massstab durchgesetzt. Vielleicht hätten sich die homöopathische Medizin und ähnliche Systeme in eine wissenschaftlich akzeptierte Richtung entwickelt. Wir wissen es nicht.
       

Der Tierversuch als Kind seiner Zeit

Andererseits ist klar, dass die tierexperimentell orientierte Medizin des 20. Jahrhunderts ein Kind ihrer Zeit ist, einer Zeit, in der technisch alles machbar erscheint, von der Landung auf dem Mond bis zur Organverpflanzung. Der Tierversuch in der Medizin passt zum totalen Materialismus des 20. Jahrhunderts. Was nicht messbar ist, gibt es nicht. Heilung muss entweder materialistisch erklärbar und nachweisbar sein oder sie wird als Scharlatanerie und Hirngespinst angesehen.
Der Tierversuch als Methode wurde nicht zufällig erst im 19. Jahrhundert systematisch in die Medizin eingeführt. Von der Technik her wäre die Wissenschaft schon Jahrhunderte vorher in der Lage gewesen, vergleichbare Experimente und Untersuchungen durchzuführen. Der Tierversuch konnte sich erst durchsetzen, als die Vorstellung, dass der Mensch nur ein etwas höher entwickeltes Säugetier wäre, hinreichend akzeptiert war. Solange es zum allgemein akzeptierten Gedankengut gehörte, dass sich der Mensch vom Tier durch seine geistig-seelischen Veranlagungen deutlich abhob, war keine Grundlage für experimentelles Forschen am Tier gegeben. Das Tierexperiment wurde erst in dem Masse «sinnvoll», wie die Naturwissenschaften den Menschen zu einem etwas weiter entwickelten Affen erklärten. Andererseits führte aber auch der Tierversuch das mechanistische, naturwissenschaftliche Denken immer tiefer in die Medizin ein.
Es ist kein Zufall, dass die heutige Medizin in der Kulturgeschichte des Menschen wohl der einzige medizinische Ansatz ist, welcher sich des Tierversuchs zur Erlangung von Erkenntnissen zu bedienen versucht und gleichzeitig – im Gegensatz zu allen bekannten Heilsystemen der Geschichte – ohne spirituellen Überbau auszukommen glaubt. Ob antike Medizin der Perser, der Griechen, der Ägypter oder der Inkas, ob Heilsysteme des Fernen Ostens oder Schamanenmedizin aller Richtungen, immer hatte Heilung etwas mit Aktivitäten Gottes oder anderer höherer Wesen zu tun und immer hatte der Heiler auch eine «seelsorgerische» Funktion. Der Einzug der Naturwissenschaften in Form des Tierexperiments in die Medizin führte bei Arzt und Patienten zur Verdrängung der spirituellen Vorstellungen von einer psychophysischen Einheit des Menschen.
       

Der Höhepunkt der Tierversuchsforschung

Von Claude Bernard ab nahm die Zahl der Tierexperimente kontinuierlich bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts zu. Der Höhepunkt dürfte zur Zeit der ersten Herztransplantationen und im Anschluss an die Contergan-Katastrophe erreicht worden sein. Mit der Verpflanzung des menschlichen Herzens durch Barnard ausgerechnet im «herzlosen» Apartheidstaat Südafrika schien es möglich, auch die letzten Hürden zu einer Technomedizin zu nehmen, welche langfristig alle Probleme der Medizin lösen würde. Der Absturz begann mit der Contergan-Katastrophe, welche trotz zahlreicher toxikologischer Studien eingetreten war. Natürlich wurde dieses Drama als Grund für die Durchführung von noch mehr Tierversuchen benutzt, aber der Glaube an die Technomedizin war erstmals ins Wanken geraten.
Die tierexperimentelle Tradition der heutigen Medizin hat dazu geführt, dass Industrie und Hochschulen gigantische Investitionen in die Tierversuchsforschung stecken, in der Hoffnung, die medizinischen Probleme unserer Zeit lösen zu können. Vor allem die Themen Krebs, Herz- und Kreislauferkrankungen, Aids, Diabetes, Epilepsien, der rheumatische Formenkreis und Allergien stellen für die moderne Medizin eine ungeheure Herausforderung dar. Mit zahllosen tierexperimentellen Modellen versucht sie, den Ursachen dieser physiologischen Entgleisungen des menschlichen Körpers auf die Spur zu kommen und chemotherapeutische oder chirurgische Behandlungsmethoden zu entwickeln.
       

Das Experiment in der Wissenschaft

Dabei wird ein wesentlicher Aspekt der Naturwissenschaften auf die Medizin angewandt und auf die Spitze getrieben: Das Experiment bei möglichst weitgehender Ausschaltung des Zufalls. Ohne Zweifel hat dieses Prinzip den Naturwissenschaften seit Galilei und Newton zu ihren bahnbrechenden Durchbrüchen verholfen. Mit Experimenten liessen sich viele wichtige Naturkonstanten und Gesetzmässigkeiten ermitteln. In physikalischen und chemischen Experimenten wurde versucht, den Ursache-Wirkungs-Zusammenhang in seiner grundlegenden Form herauszuschälen und jeglichen Einfluss des Zufalls auf das Ergebnis auszuschalten.
       

Das medizinische Experiment

Auf die Medizin angewandt bedeutet dieses Prinzip, dass die Wirkung von chemischen Substanzen, physikalischen Einflüssen oder operativen Eingriffen am Tier modellhaft untersucht wird. Durch Wiederholung des Experiments oder gleichzeitige Durchführung an einer grösseren Zahl von Tieren sollen zufällige Einflüsse auf das Resultat vermieden werden.
Auch bei der Erprobung von neuen Substanzen am Patienten wird der Einfluss des Experimentators, oder präziser ausgedrückt, des klinischen Leiters der Studie, und des Zufalls üblicherweise durch placebo-kontrollierte doppel-blinde Überkreuzungs-Verfahren (placebo controlled double-blind cross-over study) ausgeschaltet. Konkret bedeutet dies, dass bei Medikamentenstudien weder Patient noch behandelnder Arzt wissen sollen, ob ein Versuchspräparat oder ein Placebo ohne Wirkstoff, bzw. eine konventionelle Behandlung, und in welcher zeitlichen Reihenfolge eingesetzt werden. Mit Hilfe mathematisch-statistischer Methoden werden die Ergebnisse auf Signifikanz, das heisst auf ihre Aussagekraft bzw. Bedeutung, überprüft. Dabei wird der Patient – wie vorher schon das Versuchstier – gedanklich auf ein einfaches physikalisches Ursache-Wirkungs-System reduziert.
Bei diesem Vorgehen werden prinzipielle Probleme vernachlässigt. Ein Experiment ist nur sinnvoll, soweit es die entscheidenden Einflussgrössen auch tatsächlich erfasst. Wenn die ersten neuzeitlichen Physiker, z.B. Galilei, Gegenstände vom Turm zu Pisa fallen liessen, um aus der Fallzeit Schlüsse auf die Gravitationskraft zu ziehen, war das sinnvoll, weil der geringere Luftwiderstand vernachlässigt werden kann und die Gravitation tatsächlich die entscheidende Einflussgrösse darstellt. Wenn aber eine Krankheit des Menschen am Tier modellhaft untersucht wird, ist das methodologisch problematisch, weil zwischen Mensch und Tier in Physiologie, Biochemie und Metabolismus grosse Unterschiede bestehen und vor allem eine entscheidende Einflussgrösse, nämlich psychische, geistige oder seelische Einflüsse auf Entstehung, Entwicklung oder Verlauf einer Krankheit am Tier mit Sicherheit nicht modelliert werden können.

Die unsinnige Logik des Tierexperiments

Ein physikalisches Experiment kann nur physikalische Fragen beantworten. Ein chemisches Experiment wird nur Antworten für Probleme aus der Chemie geben. Aber gibt es überhaupt ein medizinisches Experiment? Kann man im Bereich der Heilkunst überhaupt im naturwissenschaftlichen Sinn experimentieren? Sicher kann man bei einem Tier oder Menschen biochemische oder physiologische Fragestellungen untersuchen. Wie reagiert ein Tier, etwa eine Ratte, dem Äthanol (Äthylalkohol) oder Methanol (Methylalkohol) verabreicht werden? In beiden Fällen wird es mehr oder weniger gestörte Verhaltensweisen zeigen bis hin zu schweren Nebenwirkungen. Aber welche Relevanz hat dieses Experiment für den Menschen? Der Mensch reagiert unter Äthanol ähnlich wie das Tier, unter Methanol wird er jedoch im Gegensatz zur Ratte rasch erblinden. Die Ursache für diese unterschiedlichen Reaktionsweisen von Mensch und Ratte besteht in einer unterschiedlichen Verarbeitung des Methanols in der Leber. Auch das Problem der physiologischen Abhängigkeit von Äthanol lässt sich am Tier untersuchen. Ratten erhalten längere Zeit Alkohol und nach Absetzen werden Entzugserscheinungen untersucht. Aber abgesehen von nicht vorhersagbaren Spezies-Unterschieden ist die Abhängigkeit des Menschen bekannterweise nicht nur eine biochemische, sondern auch eine psychisch-physische und die lässt sich eben am Tier überhaupt nicht untersuchen. Entsprechend gibt es trotz diverser Tiermodelle kein Medikament gegen Alkoholabhängigkeit. Der Vorwurf, dass die tierexperimentell orientierte Medizin nur Symptome bekämpfen oder gar verlagern würde, hängt also damit zusammen, dass ein heilkundliches Experiment im ganzheitlichen Sinn gar nicht möglich ist und dass im Tierversuch immer nur Teilaspekte ohne konkrete Vorhersagbarkeit der Relevanz für den Menschen untersucht werden können.       
       

Fortschritt in der Medizin trotz Tierversuchen

Sicher stellt sich die Frage, warum trotz der fraglichen Übertragbarkeit von tierexperimentellen Ergebnissen in den letzten 80 oder 90 Jahren doch eine grosse Zahl offensichtlich wirksamer Therapeutika entwickelt werden konnte. Die Antwort muss lauten: Nicht wegen, sondern trotz Tierversuchen wurden immer wieder therapeutisch wirksame Substanzen entwickelt und im klinischen Versuch auf ihre Wirksamkeit erprobt. Allein schon die Tatsache, dass in jüngster Zeit trotz einer auf astronomische Ziffern angewachsenen Zahl von Tierversuchen immer seltener neue Wirkstoffe gefunden werden, weist darauf hin, dass der Tierversuch letztlich nur eine geringe Rolle für die Medikamentenentwicklung spielen düfte.       
       

Der Schaden des Tierversuchs für die Medizin

Der unermessliche Schaden, der für die Medizin durch den Tierversuch entstanden ist, besteht in der masslosen Überbetonung des naturwissenschaftlichen Gesichtspunkts bei gleichzeitiger Verdrängung und Vernachlässigung des geistig-seelischen Aspektes von Gesundheit und Krankheit des Menschen. Niemand bezweifelt, dass wichtige Mechanismen in der Funktion von Mensch und Tier naturwissenschaftlich geklärt werden können. Der grandiose Fehlschluss, der durch das tierexperimentelle Forschungssystem forciert wurde, besteht jedoch darin zu glauben, dass nur die naturwissenschaftlich erklärbaren und materiell fassbaren Aspekte des Menschen für Gesundheit und Krankheit ausschlaggebend seien. Dieser Fehlschluss hat dazu geführt, dass die heutige Medizin trotz gigantischer Investitionen und einer ungeheuren Aufblähung von Detailwissen am Kern des Problems Krankheit vorbeiforscht und im Kampf gegen die entscheidenden Zivilisations- und Massenkrankheiten auf der Stelle tritt.       
     

Die fachlich begründete Ablehnung des Tierexperiments

Es ist kein Zufall, dass die allgemeine Ablehnung des tierexperimentellen Forschungssystems gerade in jüngster Zeit massiv zugenommen hat und immer häufiger auch von kritisch denkenden Ärzten und Wissenschaftlern getragen wird. Es sind hier weniger tierschützerische Belange als vielmehr die Erkenntnis, dass die weitgehend mechanistisch-materialistische Ausrichtung der medizinischen Forschung die Heilkunst trotz scheinbarer Erfolge in eine Sackgasse getrieben hat. Reduktionistische Denkweisen führten auf Kosten ganzheitlicher Vorstellungen dazu, dass Begriffe wie Leben, Bewusstsein, Seele, Krankheit, Gesundheit oder Heilung nur mehr mechanistisch interpretiert und auf biochemische oder physikalische Grundvorstellungen reduziert wurden. Mit dieser Grundhaltung gingen aber wesentliche Inhalte dieser Begriffe und damit auch deren geistige Verarbeitung verloren.       
       

Eine ganzheitliche Sicht der Medizin

Heute schwingt das Pendel in vielen Bereichen der Wissenschaft wieder in die andere Richtung – vor allem in der Physik revolutionieren völlig neue Ideen, z.B. im Bereich der Teilchenphysik, der Quantenmechanik oder der Chaostheorie das traditionelle Bild vom Kosmos, der vorbestimmt und vorhersehbar seine Bahn durch die unendliche Zeit zieht. Ganzheitliche Vorstellungen, in denen es keinen unbeteiligten Beobachter mehr gibt, in denen das Bewusstsein des Beobachters das Ergebnis des Experiments beeinflusst, in denen alles von allem beeinflusst wird und jedes mit jedem wechselwirkt, gewinnen zunehmend an Boden.
Auf die Medizin bezogen bedeutet dies, dass es den naturwissenschaftlich agierenden oder experimentierenden Arzt, der biochemische Gleichgewichte durch Chemikalien zuerst beim Tier und dann entsprechend beim Kranken in einem gewünschten Sinn beeinflusst, gar nicht gibt, sondern nur den Kranken und den Heiler und dazwischen ein vermittelndes Medium. Der Kranke erfährt im Rahmen der Krankheit nicht bloss irgendwelche mehr oder weniger zufälligen biochemischen Veränderungen, sondern seine physisch-psychische Grundhaltung wurde angestossen. Möglicherweise schwingt sie in die ursprüngliche Position zurück, vielleicht findet sie ein neues Gleichgewicht, unter Umständen ist die Veränderung nicht umkehrbar und führt zum Tode. Die Aufgabe des Arztes ist es, die Selbstheilungskräfte, welche auf körperlichen und geistigen Ebenen wirksam werden können, zu unterstützen. Seine Möglichkeiten reichen von materiell kaum erklärbaren Funktionen wie Handauflegen im archaischen Sinne des «Behandelns» über psychische Stärkung bis zur Verwendung von Heilmitteln, welche die Heilung «vermitteln» sollen. Viele Ärzte unserer Zeit haben ihre Tätigkeit auf das Erkennen von physiologischen oder biochemischen Störungen und die anschliessende Verschreibung von mehr oder weniger wirksamen Chemikalien zur Symptombehandlung reduziert. Wieweit hat diese Tätigkeit noch mit Heilen im ursprünglichen Sinn des «Ganzmachens» zu tun? Vergleicht man die Biographie des Heilers in anderen Kulturen mit dem Werdegang unserer Ärzte, so fällt auf, dass in den meisten Heilsystemen das wesentliche Kriterium für die Fähigkeit zu heilen die eigene Krise und deren Überwindung ist. Erst wenn der Heiler selbst durch eine tiefe, meist lebensbedrohliche Krankheit gegangen ist und sie mit eigener, oft letzter Kraft bewältigt hat, ist er in der Lage selbst zu heilen. Welch ein Unterschied zur Ausbildung unserer Ärzte, die mit Lehrbuchwissen vollgestopft und einem Sammelsurium von unterschiedlichsten Chemikalien und Pharmaka ausgestattet, auf die Kranken losgelassen werden. Viele Ärzte spüren dann aber im Lauf ihrer Tätigkeit, dass ihre Fähigkeiten von innen kommen und letztlich nur in zweiter Linie von den verabreichten Produkten der Pharmaindustrie abhängen.    
       

Die Medizin der Zukunft

Wird der Mediziner der Zukunft Heiler sein oder industrieabhängiger Biotechniker? Viele Zeichen deuten darauf hin, dass die heute praktizierte Medizin in jeder Hinsicht ihre Grenzen erreicht hat und von immer mehr Ärzten und Patienten als nicht mehr bezahlbar, streckenweise ausgesprochen gefährlich und im Hinblick auf die entscheidenden Massenkrankheiten als ineffektiv angesehen wird. Wenn die Menschheit die globalen Probleme unserer Zeit überleben wird, könnte eine ganzheitliche Medizin das Erbe der traditionellen und unkonventionellen Heilsysteme unter sinnvoller Einbeziehung von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen antreten. Der Tierversuch wird darin sicher keine Rolle mehr spielen, sondern als mörderischer Irrtum in die Medizingeschichte eingehen.
   

Der Autor: Dr. rer. nat. Bernhard Rambeck, Ärzte gegen Tierversuche e.V.

Jahrgang 1946, Diplom- und Doktorarbeit in Chemie/Biochemie. Seit 1975 als Leiter der Forschungsabteilung eines norddeutschen Epilepsiezentrums im Bereich Klinische Pharmakologie von Medikamenten gegen Epilepsie tätig. Seit 1987 für die Ärzte gegen Tierversuche aktiv. Autor der Bücher »Mythos Tierversuch« und »Tierversuche müssen abgeschafft werden«.